Stadt- und Quartiersentwicklung

Blick zurück in die Zukunft

Vor rund 50 Jahre bezogen die ersten Mieter die Wohnungen im Märkischen Viertel. Lange Zeit haftete der ersten großen Neubausiedlung im ehemaligen West-Berlin ein negatives Image an. Seit 2008 investiert das Wohnungsunternehmen GESOBAU und baut das Viertel zu einem energiesparenden und äußerst lebenswerten Quartier um.

Das Märkische Viertel im vormals Französischen Sektor West-Berlins entstand nach dem Mauerbau ab 1963 als Großsiedlung am Stadtrand. Auf dem Gelände befanden sich vorher Ackerflächen, Einfamilienhäuser und ein Lauben- und Notwohnquartier, in dem nach dem Krieg über 12.000 Menschen in teils unzureichenden hygienischen Verhältnissen lebten. Im Gegensatz zu den seriellen Plattenbauten der DDR entwarfen die Architekten hier ambitionierte Gebäude, die dennoch zumeist in vorgefertigter Bauweise errichtet wurden. Der heutige Zustand, nämlich das Wohnen im Park, verweist auf das 1957 fertiggestellte Hansaviertel. Die Vision der Planer verband eine Parklandschaft mit einer großmaßstäblichen, aber räumlichen Architektur, die in deutlicher Differenz zum damals üblichen Zeilenbau mit Abstandsgrün stand.

1962 legten die jungen Architekten Hans C. Müller und Georg Heinrichs unter der Leitung von Senatsbaudirektor Werner Düttmann die erste städtebauliche Idee vor und beauftragten zwanzig junge Kollegen für den Wohnungsbau. Der Plan definierte drei Bauarme, die von einem Zentrum ausgehend Landschafts- oder Einfamilienhausgebiete umschlossen. Als städtischer Boulevard entstand der Wilhelmsruher Damm, der im Osten an der 1961 gebauten Berliner Mauer endete. Die landeseigene GESOBAU wurde als Sanierungsträger eingesetzt. Die Bedeutung des Wohnquartiers mit über 17.000 Wohneinheiten gewann vor der 1963 vom Regierenden Bürgermeister Willy Brandt verkündeten Kahlschlagsanierung in der Innenstadt eine zusätzliche politische Dimension. Der soziale Wohnungsbau am Stadtrand sollte bezahlbaren Wohnraum für Zuzügler aus West-Deutschland und für die aus den Altbauquartieren umgesetzten Mieter bereitstellen.

Unter dem Obertitel „Berlin geht neue Wege“ diskutierten die Fachleute im November 1963 in der Akademie der Künste die Pläne der Stadtstruktur. Die Architekten Georg Heinrichs, Oswald Mathias Ungers und Herbert Stranz sprachen sich für eine Mischung der Funktionen aus, und auch Werner Düttmann befürwortete neben dem kommerziellen Zentrum eine gestreute Verteilung der Läden, „beinahe altmodisch im Erdgeschoss in Bodennähe für die Hausfrau“, wie Eberhard Schulz 1975 anmerkte. Die wirtschaftlichen Interessenvertreter betonten die Bedeutung der Konzentration, und so entstand eine zentrale Shoppingmall, die zu den ersten in Berlin gehört.

Bauphase 1963 – 1968

1964 wurden die ersten 172 Wohnungen am Dannenwalder Weg bezogen. Die meisten Mieter kamen aus den abgerissenen Lauben (61%) oder waren deren Tauschpartner (22%). Die Baugruppe mit dem offenen Hof zur Grenzanlage der Berliner Mauer staffelt sich von vier auf vierzehn Geschosse, mit bis zu fünf Wohnungen pro Aufgang. Ungewöhnlich hoch war der Anteil an Rentnern, die fast ein Viertel der Bewohner ausmachten. Der zweite Abschnitt mit 656 Wohneinheiten entstand am Bernhausener Ring, nördlich des Kerngebiets. Auch hier kamen die meisten Mieter aus den abgerissenen Lauben, und ein Viertel war im Rentenalter. Die Zeit zitierte 1969 den Fürsorger Simon, der feststellte: „Vom Kleinsiedler, der versuchte, seine Ziege mit auf den Balkon zu nehmen, vollzog sich der Wandel zum Kleinbürger mit Heimatgefühl fast reibungslos.“

Im dritten Abschnitt des Schweizer Architekten Karl Fleig am Wilhelmsruher Damm änderte sich die Bewohnermischung zwischen 1966 und 1967 dramatisch. Die Mieter kamen – oft nicht freiwillig – aus den Sanierungsgebieten in Kreuzberg und Wedding sowie aus West-Deutschland. Die Behörden wiesen viele Großfamilien aus den Obdachlosenunterkünften der Stadt in die 283 Wohnungen ein. Zeitweise benötigte jede zweite Familie die Unterstützung der Fürsorge. Der kräftige Farbanstrich nach einem Konzept des Künstlers Utz Kampmann brachte dem Abschnitt von Fleig sogleich den Spitznamen „Papageiensiedlung“ ein. Hier waren 40% der Frauen erwerbstätig, und eine öffentliche Kinderbetreuung wurde unerlässlich. Südlich der Bebauung entstand deshalb in der Markendorfer Straße gegen den Willen vieler alteingesessener Bewohner der erste betreute Abenteuerspielplatz in Berlin.

Bauphase 1968 – 1974

1968 kritisierten junge Architekten und Studenten im Rahmen der Berliner Bauwochen mit der Ausstellung „Diagnose zum Bauen in West-Berlin“ die informellen Netzwerke zwischen Verwaltung, Industrie, Architekten und Politik – unter anderem am Beispiel des Märkischen Viertels. Vor dem Hintergrund der Belegungspolitik, Planungs- und Baumängeln, überforderter Verwaltung und unfertiger Freiräume kippte das Bild der öffentlichen Wahrnehmung ins Negative. Medien wie „Spiegel“, „Zeit“ und „Stern“ veröffentlichten vernichtende Artikel, in denen der gesamte Baufunktionalismus jener Jahre auf der Anklagebank stand. Vor dem Hintergrund der innerstädtischen Kahlschlagsanierung und einem Paradigmenwechsel in der Architekturästhetik hin zur Postmoderne erschien die große Geste überholt und falsch, das Gebot der Stunde hieß Klein-Klein.

Gleichzeitig entstanden in dieser Phase bis 1972 die meisten Wohnungen, während die Versorgungseinrichtungen, Schulen und die Landschaftsgestaltung hinter dem Bedarf zu­­­rückblieben. Ende 1974 lebten fast 47.000 Menschen im Märkischen Viertel. Obwohl bis dahin die öffentlichen Einrichtungen und die Landschaftsgestaltung auf Druck der Bewohner fertiggestellt wurden, konnte gerade die Parklandschaft ihre Wirkung (noch) nicht entfalten. Mickrige Bäume, große Betonflächen für Parkplätze und die teils schlechte Verarbeitung der vorgefertigten Bauteile im Wohnungsbau provozierten erheblichen Vandalismus. Eingeschlagene Scheiben und zerstörte Hauseingänge griffen viele Medien für weitere negative Berichte auf. In kurzer Zeit stand das Märkische Viertel als Synonym für das Versagen der Moderne da, dessen stigmatisierende Folgen jedoch vor allem auf den Bewohnern lasteten.

Nachbesserung 1984 – 1989

Das Bundesbauministerium wählte 1984 das Märkische Viertel für ein Pilotprogramm zur Nachbesserung von Großwohnsiedlungen aus. Das Stigma der menschenverachtenden Planung und Architektur stand schon damals in auffallendem Kontrast zur Qualität der Einzelbauten und zum Lebensgefühl der Bewohner. In einem neuartigen Beirat entwickelten Bauherr, Mietervertreter, Politiker und Gutachter Verbesserungsmaßnahmen vor allem der hausnahen Freiräume und der Fassaden. Die neuen postmodernen Pavillons für die Hauseingänge bildeten einen deutlichen Kontrast zum industriellen Erscheinungsbild der Fassade. Zusätzlich strich man die Bauten am Wilhelmsruher Damm in gedeckten Farben. Auch der 700 m lange „Lange Jammer“ erhielt ein beige-graues Kleid, das ihn etwas gezwungen zur „Champagnerburg“ machen sollte. Die charakteristische Farbgestaltung entlang des Boulevards von Utz Kampmann verschwand komplett zugunsten einer biederen Gemütlichkeit.

Sanierung 2008 – 2015

Seit 2008 baut die GESOBAU ihren Wohnbestand von über 15.000 Wohneinheiten sozialverträglich zu einer Niedrigenergiesiedlung um und investiert mehrere hundert Millionen Euro in Wärmedämmung und technische Erneuerung. Von den nahezu 35.000 Einwohnern war 2013 fast ein Viertel im Rentenalter. Beinahe ein weiteres Viertel sind heute wieder Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Damit liegt der Stadtteil weit über dem Berliner Durchschnitt. Nach der Jahrtausendwende nahmen Arbeitslosigkeit und Sozialhilfebedürftigkeit zu. Deshalb werden seit 2009 aus dem Programm Stadtumbau West öffentliche Mittel für soziale Infrastruktur und den öffentlichen Raum eingesetzt. Man sanierte das Kulturzentrum Fontane-Haus und gestaltete den Vorplatz neu. Der Stadtteilpark am Mittelfeld wurde aufgewertet und mit einer Skateanlage ausgestattet. Der Bezirk sanierte Schulgebäude und Kindertagesstätten, wobei sich dabei über den Umgang mit Architektur der 1960er Jahre streiten lässt. Kunst am Bau oder architektonische Konzepte verschwanden kommentarlos. Die nach der Umgestaltung in den 1980er Jahren kritisierte „postmoderne Niedlichkeit“ der Wohnbauten ist mit der jetzigen Ertüchtigung weitgehend verschwunden. Nur im Bereich der Brückenbauwerke über den Wilhelmsruher Damm wäre eine gestalterische Intervention dringend erforderlich, um die Prägnanz des Zentrums vor dem Hintergrund des inzwischen gewaltigen Baumbestandes neu zu formulieren. Die Landschaft befindet sich heute im Bereich der Wohnhöfe durch kontinuierliche Pflege in einem vorbildlichen Zustand, während im öffentlichen Raum durchaus noch Raum für Entwicklung vorhanden ist.

Trotz des immer noch fehlenden U-Bahn- oder Straßenbahnanschlusses wird das Märkische Viertel mit seiner charakteristischen Architektur und seiner starken Gartenlandschaft als Quartier im Grünen auch in Zukunft eine große Anziehungskraft haben. Die gestalterische Grundqualität und die kontinuierliche Investition in Entwicklung und Aufwertung haben sich gelohnt und machen aus dem Märkischen Viertel etwas Besonderes, das sich nicht zu verstecken braucht und mit Stolz zu seiner Geschichte und seinen eigenständigen Qualitäten stehen kann.

Ende 1974 lebten fast 47.000 Menschen im Märkischen Viertel.

Bauherr, Mietervertreter, Politiker und Gutachter entwickelten Verbesserungsmaßnahmen vor allem der hausnahen Freiräume und der Fassaden.

Das Bundesbauministerium wählte 1984 das Märkische Viertel für ein Pilotprogramm zur Nachbesserung von Großwohnsiedlungen aus.

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