Vernetzt statt abgehängt
Die Chancen der Digitalisierung für den ländlichen Raum nutzbar zu machen, ist eines der zentralen Forschungsthemen von Gerald Swarat (M.A.), Leiter des Berliner Kontaktbüros, Fraunhofer-Institut für Expertimentelles Software Engineering IESE. In einem Interview spricht der Wissenschaftler über seine Ideen für die Umnutzung leerstehender Gebäude in Coworking-Büros, den Einsatz von Telemedizin und die Integration von digitalen Assistenzsystemen in Wohnungen.
Seit 2015 erforschen Gerald Swarat und sein Team in dem Projekt „Digitale Dörfer“ wie intelligente Vernetzung dazu beitragen kann, das Leben in der Peripherie attraktiv(er) zu machen. Anders als so manches Smart City-Projekt, bei dem es darum geht, möglichst viel Technologie zu verbauen, zielt das IESE-Vorhaben darauf ab, gemeinsam mit Gemeinden und Bürgern vor Ort nachhaltig tragfähige Lösungen für den Einsatz digitaler Tools zu entwickeln.
Auf diese Weise ist eine Onlineplattform für Kommunen entstanden, die den Austausch der Bürger untereinander und mit der Verwaltung fördert, die Nahversorgung stärkt und die Mobilität verbessert. Zukünftig sollen auch Immobilienunternehmen in das Projekt einbezogen werden.
Herr Swarat, Sie waren Projektleiter der Initiative ‚Digitale Region - Aus dem Land, für das Land‘, die in den letzten zwei Jahren nach Konzepten geforscht hat, mit denen das Leitbild einer Smart City auf ländliche Regionen übertragen werden kann. Was versteht man unter einer ‚Digitalen Region‘?
Gerald Swarat: Die Initiative ‚Digitale Region‘ ging sogar nur neun Monate, was dennoch eine lange Zeit ist, wenn man bedenkt, dass sich alle Experten ausschließlich ehrenamtlich engagiert haben. Die Digitale Region baut jedoch ganz direkt auf der 10. Initiative des ‚Internet&Gesellschaft Collaboratory‘ auf, die im Jahr 2014 von mir geleitet wurde. Insofern passt zwei Jahre schon ganz gut.
Zum Verständnis von Region: Man fragt sich zugegebenermaßen schon, ob diesem Konzept nicht ein Widerspruch zu Grunde liegt, weil die Prinzipien von Digitalisierung und Vernetzung natürlich die Eigenschaft haben, Raum und Zeit zu überwinden. Kann Internet überhaupt regional sein? Und was soll in diesem Kontext ‚regional‘ bedeuten?
Das scheinbare Paradoxon lässt sich nach zwei Seiten hin auflösen: Einerseits steht hinter der digitalen Welt eine durchaus raumgebundene Teilhabestruktur. Diese umfasst natürlich den Ausbaugrad technologischer Infrastruktur, aber auch Fragen nach der Verteilung von digitalem Know-How und Handhabungskompetenzen (Digital Literacy) fallen hierunter. Insofern kann zwischen verschiedenen Orten ein digitaler ‚Ungleichheitsgraben‘ klaffen, wenn etwa in drei Bundesländern Informatikunterricht Pflichtfach ist, während es in den übrigen dem Eigeninteresse von SchülerInnen oder LehrerInnen überlassen bleibt, ob und welches Wissen erarbeitet wird.
Dieser Perspektive zufolge wäre die Frage nach ‚Digitalen Regionen‘ eine nach digitalem Ein- und Ausgeschlossen-Sein. Andererseits kann man bei den Regionen ansetzen und sieht Digitalisierung als Lösung für spezifische regionale Herausforderungen. Es geht dann gar nicht so sehr um ein Schritt-Halten (oder Voran-Schreiten) bezüglich digital-technologischer Standards, die es braucht, um als Region attraktiv zu bleiben.
Die Idee ist, Digitalisierung als kreative Antwort auf strukturelle Probleme anderer Natur zu beziehen. Ein Beispiel ist die Frage danach, wie Vereinbarkeit von Familie und Beruf umgesetzt werden kann oder wie Kommunen im ländlichen Raum bedarfsnah und schnell von Straßenschäden außerorts erfahren können. Gerade diese zweite Perspektive kann Digitale Regionen als Ausgleich bzw. Ergänzung zu starken Metropolen positionieren. Typische Nachteile ländlicher Gebiete (z. B. personelle Engpässe, mangelnde Verkehrsanbindung etc.) könnten so ausgeglichen werden.
Eine Digitale Region kann mehrere Gebietskörperschaften umfassen. Sie kann beispielsweise mehrere IHK-Bezirke umspannen. Denn nicht die räumliche Abgrenzung ist entscheidend, sondern die Vernetzung der Akteure, der inhaltlichen Gestaltungszusammenhänge sowie des Grades der digitalisierten Anwendungen.
Welche Themenfelder wurden behandelt?
Gerald Swarat: Generell muss jeder ernsthafte Versuch einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen. Denn so wenig wie die Digitalisierung nur in einem Bereich unseres Lebens halt macht, genauso wenig wird es gelingen, die Fähigkeit zur Innovation in einer Region nur von der digitalen Verwaltung oder eHealth-Projekten abhängig zu machen. Wir haben uns im Speziellen, begründet durch die interne Analyse unser Partnerregionen, mit den Themenfeldern ‚Leben und Arbeiten‘, ‚Digitale Verwaltung‘, ‚Mobilität‘, ‚Bildung und Lernen‘ sowie ‚Facing Fears‘ beschäftigt und sind so von bundesweiten Befragungen über unsere Social-Media-Kanäle und z. B. Straßenbefragungen in den Partnerregionen bis hin zu Stakeholder-Workshops vor Ort immer tiefer in die regionalen Bedarfe eingedrungen.
Die Stadtverwaltung chattet und twittert
Zu den drei Modellregion gehörten Wennigsen bei Hannover, der Landkreis Augsburg und die Region Südniedersachsen. Was möchten die Gemeinden mit Hilfe von Digitalisierung verbessern?
Gerald Swarat: Diese drei Partner sind gewählt worden aufgrund ihrer Verschiedenheit und der Anwesenheit engagierter Partner vor Ort, die uns helfen konnten, in nur einem Workshop möglichst viel herauszuholen. Lassen Sie mich auf Wennigsen im Einzugsgebiet von Hannover eingehen: In Wennigsen ist ganz klar ein Bonus, dass sich mit dem Bürgermeister Meineke und seinem digitalen Treiber Mainka eine Konstellation gefunden hat, die Digitalisierung in alle Politikfelder hineinträgt und Wennigsen somit zu einem Hort der Innovation macht.
Hier haben wir u.a. mit Angestellten aus der Verwaltung einen Chatbot erarbeitet, der bestenfalls in diesem Jahr angegangen wird. Das Programm lässt sich u.a. in bestehende Messenger-Plattformen wie Telegram, Twitter, Facebook oder auch auf der eigenen Webpräsenz einbinden und kann so ein spielerischer Einstieg in die digitalen Möglichkeiten genutzt werden und z.B. als Dialogpartner für Erstkontakt-Fragen auf der Webseite der Gemeinde getestet werden.
In Wennigsen ist auch ein typisches Problem des Raumes außerhalb der Ballungszentren zu erkennen: eine hohe Pendlerquote. Von 4.795 sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten mit Wohnort in Wennigsen pendeln 4.060 zur Arbeit in andere Gemeinden. Es überwiegt also ganz klar die Funktion als Wohnstandort, deshalb ist es ganz naheliegend, dass wir uns über einen Coworking-Space, der gleichermaßen von Unternehmen, Schulen, Zivilgesellschaft und Verwaltung getragen und genutzt werden muss, ausgetauscht haben und der mittlerweile von Wennigsen im Rahmen eines anderen Projektes auch realisiert wurde.
In Augsburg hingegen treffen wir auf eine starke Wirtschaftsförderung, die sich dem Thema annehmen will, um den Unternehmen Hilfestellung auf dem Weg durch die Digitale Transformation zu geben. Sie haben erkannt, dass es in der Region an Wissensvermittlung, Know-How und Beratung zum Thema Digitalisierung mangelt. Es fehlen auch Leuchtturmprojekte, die als Beispiel für andere wirken können.An dieser Stelle kann das Netzwerk der Digitalen Region greifen und mit zielgerichteten Formaten Changemaker vor Ort identifizieren und fit machen. Diese gilt es weiter zu coachen und zu vernetzen sowie auf Augenhöhe mit den Entscheidern in den Unternehmen zusammenzubringen.
In Südniedersachsen haben wir über Mobilität gesprochen, denn hier ist an vielen Orten deutlich geworden, dass Mobilität zur Herausforderung wird. Mobilität war lange Zeit im ländlichen Raum kein Problem. Nur diejenigen, die nicht über ein Auto verfügten, spürten das. Inzwischen schreitet die Zentralisierung von Versorgungseinrichtungen voran. Der Bäcker, der kleine Lebensmittelladen – sie sind oft verschwunden. Das Krankenhaus ist in der Kreisstadt. Die Hausärztin im Nachbarort. Das alles stellt insbesondere ältere Menschen vor große Herausforderungen – vor allem, wenn die Kinder mit ihren Familien nicht mehr nebenan wohnen. Es stellt aber auch Familien vor Herausforderungen. Erreichbarkeit ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Sie wird zu einer organisatorischen Herausforderung.
Coworking-Büros braucht es auf dem Land
Als ein zentrales Handlungsfeld haben sich Coworking-Büros herausgestellt. Warum?
Gerald Swarat: Ja, das ist ein wichtiger Punkt, denn ein Charakteristikum ländlicher Räume ist das Pendeln. Die Zeit, die die Menschen aber tagtäglich auf der Straße oder in der Bahn verbringen, fehlt der Gemeinschaft. Das ist die Zeit, die für Vereine, für politisches oder sonstiges ehrenamtliches Engagement in der Heimatgemeinde vorbehalten war. Aber es ist nicht nur Coworking. Es ist wichtig, einen physischen Ort in der Stadt zu schaffen, der als ‚Anlaufstelle‘ und Kristallisationspunkt für den themenbezogenen Austausch dienen kann. Ein Ort, an dem Theorie und Praxis digitalisierter Arbeitswelten zusammenkommen. In Workshops, Seminaren und Vorträgen gilt es für den benötigten Wissens- und Erfahrungstransfer zu sorgen, Unternehmen, Arbeitgeber und Belegschaften der Region an die Themen heranzuführen, die unter dem Dachbegriff Arbeit 4.0 diskutiert werden.
In solchen Orten werden auch vermeintliche Sorgen und Befürchtungen im Zusammenhang mit der Digitalisierung ‚natürlich‘ entkräftet und ins hoffnungsfrohe Gegenteil gewendet, weil sie Synergien schaffen statt Chimären aufzubauen. Diese Orte befördern nicht nur den Diskurs zwischen Firmen und sonstigen Stakeholdern, sondern auch zwischen Alt und Jung und bilden somit ein gutes Fundament für den Austausch zwischen zukunftsorientierten und konservativen Menschen.
Nicht nur auf die Städte fokussieren
Momentan ist eine paradoxe Situation zu beobachten: Während die Bevölkerung in den Städten wächst, schrumpfen ländliche Regionen derart, dass die Daseinsvorsorge kaum noch gewährleistet ist. In Städten ist Wohnraum knapp und teuer, auf dem Land findet ein Immobilien-Preisverfall statt. Mit welchen digitalen Maßnahmen lassen sich Leute in ländlichen Regionen halten?
Gerald Swarat: Auf die Frage kann ich keine befriedigende Antwort geben. Ich denke aber, wir brauchen ein Gesamtprogramm für den ländlichen Raum, um ein klares Signal der Politik auszusenden im Sinne von ‚niemand bleibt zurück‘. Es muss ein strategischer Ansatz gefunden werden, der den Willen zeigt, ländliche Räume als lebenswerten Lebensraum und volkswirtschaftlich bedeutsamen Arbeitsraum zu erhalten.
Es ist ein Fehler, nur auf die Städte zu fokussieren und das Land abzuwickeln. Da ist auch mittlerweile ein Umdenken erfolgt, allerdings bleibt vieles Stückwerk und ein Flickenteppich wenig durchdachter Einzellösungen, die sonst nirgendwo funktionieren und geringe Ansprüche an Qualität und Sicherheit haben, führt nur zu weiterer Frustration der Digitalisierung gegenüber - wobei wir doch momentan vielmehr an einer positiven Vision arbeiten müssen im Angesicht der Debatte um Automatisierung und Robotisierung der Arbeitswelt.
In der Digitalen Region ging es darum, die Chancen der Digitalisierung zu akzentuieren, bevor kurative Notwendigkeiten dem Leben im ländlichen Raum jeglichen Spielraum nehmen. Dazu braucht es die Unterstützung des Bundes ebenso wie eine Kooperative der Länder zur Entwicklung vor Ort. Die Politik muss den Menschen die Sorge vor dem Zurückbleiben nehmen, denn die Zukunft gehört nicht den ‚Codern‘ allein. Das ist der entscheidende Gestaltungsauftrag an die Politik! Die Bürger erwarten Transparenz und Offenheit in den Entscheidungsprozessen sowie Möglichkeiten zur Beteiligung. Das Wissen und die Initiative der Bürger sowie der Unternehmen muss in diese Prozesse einbezogen werden und gelingt durch digitale, partizipative Verfahren umfassender und transparenter denn je.
Wir können es uns nicht leisten, mehr Vertrauen in die demokratischen Repräsentanten, die Entscheider vor Ort und in die eigene Zukunft zu verlieren. Digitalisierung muss für alle da sein, denn sie bedeutet Teilhabe, Chancengleichheit und Zugang zu einer selbstbestimmten Zukunft!
Wohnen im Alter steht ebenfalls auf der Agenda
Wohnen war indes nicht Forschungsgegenstand, obwohl der demografische Wandel doch gerade im ländlichen Raum eine enorme Herausforderung ist. Wird es dazu ein gesondertes Projekt geben oder ein Anschlussprojekt, um das Thema Wohnen, eventuell in Kombination mit Gesundheit, mit den anderen zu verzahnen?
Gerald Swarat: Das Thema ‚Wohnen im Alter‘ im Sinne einer selbstbestimmten, sicheren und versorgten Möglichkeit, so lange in den eigenen vier Wänden zu bleiben, wie gewollt, die Gewährleistung einer individuellen ärztlichen Versorgung und einer aktiven, kommunikativen Partizipation zu gewährleisten, sind wichtige Punkte, die wir in Konzepten mit dem Fraunhofer IESE im Rahmen unserer Projekte wie die Digitalen Dörfer bereits andenken. Ein konkretes Umsetzungsvorhaben gibt es jedoch bislang nicht.
Das Gespräch führte die freiberufliche Video-/Journalistin Dagmar Hotze, Stendal
Im Bundesbaublatt 05/2018 beschäftigt sich der Artikel „Digitale Dörfer statt öde Orte“ ausführlich mit dem Thema Digitalisierung als Chance für den ländlichen Raum.
Viele Praxisbeispiele liefert das 2018 erschienene Buch:
Smartes Land - von der Smart City zur Digitalen Region:
Impulse für die Digitalisierung ländlicher Regionen
Verlag Werner Hülsbusch, Glückstadt