„Chronischen Burnout“ stoppen: Deutschland braucht 210.000 neue Sozialwohnungen pro Jahr

Deutschland steckt im „Wohn-Notstand“: Bundesweit fehlen rund 550.000 Wohnungen (allein in Berlin: 35.000 Wohnungen) – vor allem bezahlbare Wohnungen und Sozialwohnungen. Tendenz steigend. Denn der Neubau wird in diesem Jahr weiter abstürzen. Davon sind Wissenschaftler und Experten der Bau- und Immobilienbranche überzeugt.

Konkret müssen bis 2030 pro Jahr mindestens 210.000 Sozialwohnungen neu geschaffen werden (Berlin: 30.000) – vor allem per Neubau. Aber auch durch den Ankauf und die Verlängerung von Belegungsrechten. Nur so kann es gelingen, in fünf Jahren die Zielmarke von 2 Millionen Sozialwohnungen zu erreichen. Das wären rund 930.000 mehr als heute. „Doch selbst dann wäre nur die gröbste Not gelindert“, sagt Matthias Günther. Der Chef-Ökonom des Pestel-Instituts spricht von einem „chronischen Burnout am Sozialwohnungsmarkt“. Würde der Staat die Menschen, die einen Anspruch auf eine Sozialwohnung haben, tatsächlich versorgen, dann wären bundesweit sogar rund 5,6 Millionen (Berlin: 840.000) Sozialwohnungen notwendig“, so Günther.

Das Pestel-Instituts hat zusammen mit dem Bauforschungsinstitut ARGE (Kiel) des Landes Schleswig-Holstein auf einer Pressekonferenz in Berlin eine Studie zur Lage auf dem Wohnungsmarkt vorgestellt: „Das Bauen und Wohnen in Deutschland sozial neu justieren“ – so der Titel der Untersuchung, die die beiden Institute im Auftrag des Bündnisses „Soziales Wohnen“ gemacht haben. In dem Bündnis (www.bauen-und-wohnen-in-deutschland.de) haben sich der Deutsche Mieterbund (DMB), die Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) und die Bau-Gewerkschaft (IG BAU) zusammengeschlossen. Ebenso die Bundesverbände der Mauerstein-Industrie und des Baustoff-Fachhandels.

Die Studie warnt: Es gibt immer weniger Sozialwohnungen. Ihre Zahl sackt seit Mitte der 90er-Jahre kontinuierlich ab. Sie hält sich nur noch knapp oberhalb der 1-Millionen-Grenze. Tendenz weiter fallend. „Rutscht die Zahl der Sozialwohnungen weiter nach unten, dann durchbricht sie mit der Millionen-Grenze auch eine ‚soziale Schallmauer fürs Wohnen‘: Die Menschen werden früher oder später auf die massive Wohnungsnot und dabei vor allem auch auf den eklatanten Mangel an Sozialwohnungen reagieren“, sagt Matthias Günther. Darin stecke sozialer Sprengstoff.

Die Ampel sei mit guten Zielen gestartet: 400.000 Neubauwohnungen – jede Vierte davon hätte eine Sozialwohnung werden sollen. „Doch damit ist sie krachend gescheitert. Die neue Bundesregierung mussdeshalb den Förderhebel rasch umlegen und dabei eines vor Augen haben: Für den Neubau von 100.000 Sozialwohnungen müssen Bund und Länder 11 Milliarden Euro in die Förderung investieren“, so Günther.

In ihrem letzten vollen Regierungsjahr – also 2023 – habe die Ampel lediglich gut 23.000 Sozialwohnungen gefördert – und damit weniger als im Durchschnitt der letzten Jahre. „Das Paradoxe ist: Der Bund hat dabei sogar mehr Geld in den sozialen Wohnungsbau gegeben als zuvor. Trotzdem kamen am Ende weniger Sozialwohnungen heraus. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Deutschland baut ‚Premium-Sozialwohnungen‘. Und die sind schlichtweg zu teuer. Es geht in guter Qualität auch deutlich günstiger“, erklärt Prof. Dietmar Walberg. Konkret gehe es um den „Gebäudetyp E“ – E wie einfach oder experimentell. „In Schleswig-Holstein wird so bereits gebaut. Und das ‚E‘ steht dabei längst für ein erleichtertes und erfolgreiches Bauen“, so Walberg.

Der Chef des Kieler Bauforschungsinstituts ARGE hat mit seinem Team eine Fülle von Bauprojekten begleitet und analysiert. Das Ergebnis des „erleichterten Bauens“ wird branchenintern bereits als „Trendwende für die Förderpraxis“ gewertet – und es verblüfft: „Die reinen Baukosten bei Sozialwohnungen lassen sich um bis zu einem Drittel senken. Unterm Strich würde die bisherige vom Staat gezahlte Fördersumme von gut 3.200 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche sogar ausreichen, um damit den Bau von Sozialwohnungen komplett zu finanzieren. Alles, was Sozialwohnungen darüber hinaus kosten, geht in ‚Nice-to-have-Extras‘“, so Prof. Dietmar Walberg.

Dazu zählen nach ARGE-Angaben zum Beispiel zu viel Wand- und Deckenstärken, dreifach verglaste Fenster, überzogener Klima- und Lärmschutz, Kellerräume und auch Tiefgaragenplätze. Wichtig dabei sei, dass „der ‚Sozialwohnungsbau im Sparmodus‘ die geltenden Bauvorschriften auf Punkt und Komma berücksichtigt und gleichzeitig noch einen Beitrag zur Baukultur leistet“. Er funktioniere in der Baupraxis und liefere vor allem auch guten Wohnkomfort. Walberg warnt deshalb vor einer „Weiter-so-Förderung“.

Der ARGE-Chef nennt dazu ein konkretes Förderlimit: So lässt sich nach Berechnungen des Bauforschungsinstituts eine Sozialwohnung für rund 2.920 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche bauen. Für diese reinen Baukosten wären dann lediglich nur noch 1.840 Euro pro Quadratmeter an Fördergeld nötig. Dazu kämen allerdings noch die Grundstückskosten. „Hier ist es entscheidend, dass die Kommunen deutlich mehr günstiges Bauland für den sozialen Wohnungsbau bereitstellen als bislang“, so Prof. Walberg.

Sein Fazit: „Deutschland muss anfangen, das Label ‚gut & günstiger‘ auf seine Sozialwohnungen zu kleben. Das spart Geld. Und mit weniger Förder-Euro pro Sozialwohnung lassen sich vor allem deutlich mehr Sozialwohnungen bauen.“

Und mehr Sozialwohnungen werden dringend gebraucht. Das macht die Studie deutlich: „Die Baby-Boomer gehen bis 2035 komplett in Rente. Bei vielen von ihnen gab es immer wieder Phasen von Arbeitslosigkeit. Außerdem waren die geburtenstarken Jahrgänge die, die oft zum Niedriglohn gearbeitet haben. Also gehen viele der Baby-Boomer mit einer eher kleinen Rente nach Hause. Ihre Miete können sie sich damit nicht mehr leisten – sie wird zur ‚K.o.-Miete‘. Hunderttausende werden deshalb in den kommenden Jahren zusätzlich auf eine Sozialwohnung angewiesen sein“, sagt Matthias Günther. Auch für Menschen mit Behinderung, deren Zahl steige, sei es notwendig, zusätzlich sozialen Wohnraum zu schaffen.

Außerdem habe das Ausscheiden der Baby-Bommer aus dem Arbeitsmarkt einen weiteren Effekt: „Es fehlen Arbeitskräfte. Wenn die Wirtschaft nicht spürbar einbrechen soll, dann müssen Menschen aus dem Ausland kommen, um freiwerdende Jobs zu übernehmen. Doch wer kommt, der muss auch wohnen. Und zwar in einer Wohnung, die er sich leisten kann“, so Günther. Der Chef-Ökonom des Pestel-Instituts hält dabei Forderungen aus Wirtschaftskreisen, die von einem notwendigen Zuzug von rund 500.000 Menschen pro Jahr ausgehen, für realistisch.

Die Studie hält eine klare Botschaft für die Politik parat: „Der Staat muss auf den Konjunkturmotor Wohnungsbau setzten. Und zwar jetzt – in der Krise. Das ist nichts für das 100-Tage-Programm der neuen Bundesregierung. Das ist etwas, was das Kanzleramt in den ersten 50 Tagen auf den Weg bringen muss“, sagt Matthias Günther. Für den Chef-Ökonomen des Pestel-Instituts liegen die Vorteile eines Bau-Konjunkturprogramms klar auf der Hand: „Damit würde der Bund dringend benötigte Wohnungen schaffen. Außerdem könnte er so die angeschlagene Baubranche stützen und einen weiteren Abbau von Kapazitäten – vor allem den Verlust von Arbeitsplätzen – verhindern. Entscheidend dabei ist: Es wäre ein erfolgreiches Binnenkonjunkturprogramm, das sich für den Staat auch noch rechnen würde.“ Diese Chance auf einen „gesamtwirtschaftlichen Wachstumsschub per Wohnungsbau“ dürfe die neue Bundesregierung nicht verpassen.

Das Fazit der Studie: Deutschland muss in den Turbogang schalten, wenn es darum geht, mehr Sozialwohnungen zu schaffen. Wie das gelingen kann, dazu hat das Bündnis „Soziales Wohnen“ jetzt einen Katalog mit fünf zentralen Forderungen aufgestellt:

1. Zielvereinbarungen und bundesweites Sozialwohnungsregister
Für eine Trendwende beim sozialen Wohnen sind pro Jahr 100.000 neue geförderte Wohnungen notwendig – und darüber hinaus 75.000 Sozialbindungen im Bestand. Bund, Länder und Kommunen müssen entsprechende Ziele vereinbaren. Und sie müssen die Grundlage dafür schaffen: Die Einführung eines bundesweiten Sozialwohnungsregisters – mit allen relevanten Daten (Zahlen der Sozialwohnungen in den Kommunen, Neubau sowie Dauer, Verlängerung und Ankauf von Belegungsrechten) für eine optimale Planung und Kooperation aller staatlichen Ebenen.

2. Grundgesetz-Garantie für Neubau-Förderung von Sozialwohnungen
Sozialwohnungsbau nicht nach „schwankender Haushaltslage“: Um eine kontinuierliche Neubau-Förderung von Sozialwohnungen auf sichere fiskalische Füße zu stellen, sollen die notwendigen Bundesmittel dazu per Grundgesetz garantiert werden. Bei der Subvention für den sozialen Wohnungsbau gilt: Für 100.000 neu gebaute Sozialwohnungen ist eine Bund-Länder-Förderung von 11 Milliarden Euro notwendig. Mindestens diese Summe sollte jährlich in einem langfristigen und haushaltsunabhängigen Sozialwohnungsbau-Fonds bereitgestellt werden.

3. Sieben statt 19 Prozent Mehrwertsteuer für den Neubau von Sozialwohnungen
Ermäßigter Steuersatz für Neubau von Sozialwohnungen: Um die Kosten beim sozialen Wohnungsbau zu senken, soll es eine rasche Reduzierung der Mehrwertsteuer von 19 auf 7 Prozent geben. Und zwar auf alle Bauleistungen für Wohngebäude, in denen mindestens zwei Drittel der Wohnungen Sozialwohnungen sind.

4. Regelstandards für Sozialwohnungsbau
Regio-Standards: Es soll bundesweit in allen Regionen Regelstandards für den Neubau von Sozialwohnungen geben. Ziel ist es, günstigere Baupreise für Sozialwohnungen durch einen einheitlichen Standard vor Ort bei guter Qualität zu bekommen.

5. Zehn-Prozent-Quote bei Vergabe von Sozialwohnungen
Sozial-Quote: Bundesweit soll es künftig in allen Kommunen „Wohn-Härtefallkommissionen“ geben, die über ein 10-Prozent-Kontingent der zu vergebenen Sozialwohnungen entscheiden. Ziel ist es, damit vor Ort die Berücksichtigung sozialer Kriterien bei Wohnungsvergaben zu garantieren. Benachteiligte Menschen – insbesondere Menschen mit Behinderung – sollen dadurch eine deutlich bessere Chance bekommen, auf dem Wohnungsmarkt Fuß zu fassen. Außerdem soll ab sofort auch bei den jährlich neu gebauten Sozialwohnungen ein Kontingent von mindestens 10 Prozent für Menschen mit Behinderung bereitgestellt werden. Im Fokus dabei: kleine und barrierearme Wohnungen.