Smart Home: Aufklärung tut not
Bis 2020 soll es über eine Million Smart Home-Haushalte in Deutschland geben, nimmt das Beratungsunternehmen Deloitte an. Momentan ist die Situation eine andere: Gerade einmal 1 % der Haushalte ist vernetzt. Und das meist mit Insellösungen. Von umfassenden Gebäudekonzepten ist der „Markt“ weit entfernt. Nötig dazu wären produktübergreifende Informationsstellen.
Walter B. macht Frühjahrsputz. Dutzende Zeitschriften und Herstellerprospekte, die er sich im vergangenen Jahr über Smart Home besorgt hat, wandern in einen Karton, den er anschließend zur Altpapiertonne bringen will. Um sich über vernetztes Wohnen schlau zu machen, das seiner 85-jährigen Mutter den Alltag in den eigenen vier Wänden erleichtern soll, ist er in Hamburg monatelang von Pontius zu Pilatus gelaufen. Auf etlichen Messen ist er gewesen und hat Architekten und Elektroinstallateure um Rat gefragt. Jeder hat ihm etwas anderes erzählt, wie sich die mit einer konventionellen Elektrik ausgestattete Wohnung der alten Dame nachrüsten lässt. Doch so richtig konnte ihm keiner helfen. Bis er von dem Forschungsprojekt „Vernetztes Wohnen im Quartier“ hörte, bei dem eine bestehende Wohnung auf dem Gelände von Pflegen & Wohnen in Hamburg-Uhlenhorst mit Smart Home- und Ambient Assisted Living-Technik (AAL) ausgestattet wurde. „Da hab‘ ich endlich versierte Fachleute gefunden, die mit dem Wirrwarr aus Systemen und Standards klarkamen“, sagt der Endfünfziger und fügt entrüstet hinzu, „Es kann doch nicht sein, dass jetzt, wo auch der Wohnbereich immer digitaler wird, sich keiner richtig damit auskennt!“ Mittlerweile hat seine Mutter in der Modellwohnung übernachtet und ist begeistert von dem Komfort. Nun wollen beide gemeinsam mit dem Systemintegrator überlegen, wie es weitergeht.
Viele Produkte, wenig Lösungen
Die Erfahrung von Walter B. ist kein Einzelfall. Auch die Wohnungswirtschaft erwartet von Smart Home ein sowohl generationsübergreifendes als auch ressourcenschonendes Wohn- und Gebäudekonzept, das zudem bezahlbar ist. Proprietäre Produkte oder gar Spielereien für Technik-Nerds kann die Branche nicht gebrauchen. Um in der Sache zügiger als bisher voranzukommen, müssen neue Wege beschritten werden. Zum einen sind Fachplaner mit interdisziplinärem Know-how gefragt. Zum anderen könnten unabhängige Beratungsstellen als Cluster fungieren, über die sich „smarte“ Planungsteams und Entscheider aus der Wohnungswirtschaft zusammenfinden. Soweit der Wunsch. In der Wirklichkeit fühlen sich bisher nur wenige zuständig. Für die meisten Architekten gehört vernetztes Wohnen nicht zum Standardrepertoire. Das Elektrohandwerk ist noch nicht flächendeckend drin im Thema. Und die Hersteller haben ihre eigenen Allianzpartner. Von einer „Marktdurchdringung“ kann also keine Rede sein.
Initiative für vernetztes Wohnen
Zu einer häufig genutzten Anlaufstelle ist die Smart Home Initiative Deutschland geworden. Seit 2008 setzt sich der Verein mit Sitz in Berlin dafür ein, dass schlaue Häuser aus der Techniknische kommen und bringt dazu die notwendigen Akteure aus Handwerk, Architektur, Wohnungswirtschaft, Gesundheitswesen, Elektroindustrie, Politik und Wissenschaft enger miteinander in Kontakt. Dank der engagierten Mitglieder um den Vereinsvorsitzenden Günther Ohland, ist die Organisation mittlerweile zu einem wichtigen Ansprechpartner für Wohnungsverbände geworden. Neben einem regelmäßigen Veranstaltungsprogramm bietet der Verein einige praktische Services: Zum einen unterhält er eine frei zugängliche Onlinedatenbank, in der er seine bundesweit vertretenen Smart Home-kundigen Mitgliedsbetriebe auflistet. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, eines der über Deutschland verteilten Smart Homes oder den Ausstellungsraum eines Mitglieds zu besuchen, um einen Einblick in die Funktionsweise eines vernetzten Gebäudes zu bekommen. Auch im Bereich der Weiterqualifizierung von Elektrofachbetrieben ist die Initiative aktiv und bietet Schulungen an, die bis zur Zertifizierung als „Fachbetrieb für vernetzte Gebäude“ reichen.
Zunehmende Verzahnung von Elektrotechnik und IT
So einfach, wie es manche Werbebroschüre verspricht, scheint eine ganzheitliche Gebäudevernetzung nicht zu sein. Müssen eventuell Spezialisten hinzugezogen werden, die bisher nicht zu den klassischen am Bau Beteiligten gehören, damit ein Projekt gelingt? Einer, der seit mehr als zehn Jahren vernetzte Gebäude realisiert, ist Reinhard Heymann, der das eingangs erwähnte Hamburger Modellvorhaben technisch mit geplant und ausgerüstet hat. Der aus der IT kommende Geschäftsführer der Q-Data Service GmbH kennt das Dilemma aus der täglichen Praxis: „Es gibt zwar immer mehr Smart Home-Produkte. Die haben aber nur wenig mit den Anforderungen der Wohnungswirtschaft zu tun.“ Kommt jemand das erste Mal zu ihm, setzt er deshalb auf eine grundlegende Aufklärung, die den Unterschied zwischen einer althergebrachten und einer „intelligenten“ Elektroinstallation verdeutlicht und darüber hinaus die zunehmende Verzahnung von Elektrotechnik und IT erklärt. Was als Beratungsdonnerstag für Häuslebauer begann, ist mittlerweile zur „Smart Solutions“-Informationsplattform für professionelle Immobilienentscheider in der Metropolregion Hamburg geworden. Aufgrund der gestiegenen Nachfrage wickelt Heymann die Terminwünsche seit einigen Monaten über die Webseite Homenet24.de ab. Sonst käme er nicht hinterher, sagt er.
Gebäudedaten in der Cloud
Der IT-Profi denkt noch weiter. Denn was passiert mit den Daten, die in einem smarten Gebäude entstehen? Wo werden sie gespeichert? Um auch dafür eine Lösung parat zu haben, ist sein Unternehmen seit einem Jahr Partner der „Deutschen Business Cloud“. Dahinter steckt ein professionell geführtes Rechenzentrum in Deutschland, in dem vornehmlich Steuerberater, Rechtsanwälte und Wirtschaftsprüfer ihre Daten lagern. In Zukunft könnten auch Wohnungsunternehmen zu den Kunden zählen, denn Heymann ist dabei, seine Smart Home-Dienstleistungen zu einem Rund-um-sorglos-Paket zu schnüren. Von der Planung bis zum Datenhosting will er alles aus einer Hand anbieten, was für einen professionellen Smart Home-Betrieb notwendig ist. „Denn mit Insellösungen lässt sich eine zukunftsfähige, digitale Gebäudeinfrastruktur auf Dauer weder sicher noch wirtschaftlich betreiben.“
Lösungen statt Leuchttürme
Auch in Wolfsburg hat man erkannt, dass das Thema Smart Home anders angegangen werden muss. Vor fünf Jahren wurde deshalb auf dem InnovationsCampus der Wolfsburg AG, einer 1999 von der Stadt Wolfsburg und dem Volkswagenkonzern gegründeten Wirtschaftsförderung, ebenfalls eine barrierefreie Modellwohnung mit Smart Home- und AAL-Komponenten ausgestattet. Allerdings standen nicht Forschen und Entwickeln im Vordergrund, sondern das Aufzeigen konkreter Lösungen für altersgerechtes Wohnen. In der ersten Phase wurde das zwischenzeitlich mit dem „SmartHome Deutschland AWARD 2015“ prämierte Wohnkonzept „+raum“ auf Fachtagungen vorgestellt und in Vortragsreihen erläutert. Dann sind regelmäßige Führungen hinzugekommen, die rege genutzt werden, wie Anna Grohmann, die das Projekt für die Wolfsburg AG leitet, berichtet.
Mit der Zeit sei so ein beachtliches branchenübergreifendes Netzwerk aus regionalen und bundesweit tätigen Fachbetrieben entstanden, wodurch sie zum begehrten Ansprechpartner für Demografie-Konzepte geworden wären, erzählt sie weiter. Weil sich aus den Beratungsgesprächen immer häufiger konkrete Planungsfragen ergeben haben, geht das Team jetzt einen Schritt weiter und bietet zukünftig einen beratenden Koordinationsservice für Wohnungsgesellschaften an, der die notwendigen Partner für die Realisierung einer AAL-fähigen Wohnung zusammenführt. Der Vorteil liegt auf der Hand: Die zeitraubende Expertensuche entfällt.
Wirtschaftsfaktor Smart Home?
Das Engagement kommt in Niedersachsen nicht von ungefähr, denn der demografische Wandel wird das Bundesland in den kommenden Jahren gravierend verändern: Die Bevölkerungsprognose der NBank geht davon aus, dass in den nächsten 20 Jahren rund 400.000 überwiegend junge Menschen abwandern und Bürger „zurückbleiben“, die im Schnitt 45 Jahre alt sind und meist in ländlichen Regionen leben. AAL-Wohnen könnte für sie zur „Brückentechnologie“ werden. Vergleichbar ist die Situation in Rheinland-Pfalz, wo das Landesministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie mit dem 2010 erschienenen Aktionsplan „Gut leben im Alter“ der Entwicklung gegensteuern will. Allerdings setzt man dort weiterhin auf Forschungsleuchttürme, wie das kürzlich gemeinsam mit dem Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering IESE in Kaiserslautern und dem Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung e.V. (dip) gestartete Telematik-Projekt „STuDi- Smart Home-Technik und Dienstleistungen für ein unabhängiges Leben zu Hause“, um neue Erkenntnise zu gewinnen. Für andere Bundesländer ließen sich ähnliche Beispiele finden.
Smart Home und AAL darüber hinaus auch als Wirtschaftsfaktor zu begreifen – wie eben in Niedersachsen – und entsprechende Cluster zu etablieren, über die sich die unterschiedlichen Wirtschaftssektoren schneller vernetzen können, scheint indes nirgendwo systematisch angedacht oder gar konkret angegangen zu werden. Stattdessen forscht und wurstelt jeder für sich, auch wenn die Probleme im Hinblick auf die Wohnsituation älterer Menschen (und deren medizinische Versorgung und Betreuung im ländlichen Raum) immer drängender werden.
Innovationszentrum in der City
In Stuttgart arbeitet Thomas Keiser an etwas, dass vernetztes Wohnen für ein breites Publikum zugänglich machen soll: Ein Kaufhaus für Smart Home. Was nach einer verrückten Idee klingt, befindet sich bereits im fortgeschrittenen Stadium. So plant der promovierte Betriebswirt in prominenter Lage ein ca. 300 m² großes Innovationszentrum, wo alle für die Umsetzung erforderlichen Mitstreiter versammelt sein werden. „Denn wie soll Smart Home den Markt durchdringen, wenn sich die Marktteilnehmer gar nicht kennen?“, begründet er sein Vorhaben. Wer hier herkommt, soll anschließend über konkrete Informationen verfügen, vielleicht sogar die richtigen Planungspartner gefunden haben. Von der Stadt hat der Geschäftsführer des Telekommunikationsunternehmens Tellur GmbH, das sich seit 1998 unter anderem mit smarten Assistenzlösungen beschäftigt, bereits positive Signale erhalten. Sein Konzept ergänzt die Pläne der baden-württembergischen Landeshauptstadt, Wohnen, Arbeiten, Mobilität und Bildung besser miteinander zu verzahnen. Auch Kammern, Verbände und die Industrie haben ihr Interesse bekundet, sich zu beteiligen.
Beratungscluster sollen bundesweit entstehen
Momentan ist Keiser damit beschäftigt, ein Betreiberkonzept zu erstellen und die Finanzierung für die ersten zwei Jahre auf die Beine zu stellen. Rund 2 Mio. € hat er veranschlagt, die zur Hälfte aus öffentlichen Mitteln und aus der Industrie kommen sollen.
Wenn alles unter Dach und Fach ist, wird der Standort gesucht. Stuttgart sei aber erst der Anfang, verkündet der Kaufmann stolz. Läuft alles rund, will er bundesweite Innovationszentren für vernetztes Wohnen aufbauen. Denn warum abwarten, bis sich amerikanische Internetgiganten den Smart Home-Markt schnappen? Das Know-How sei hierzulande allemal vorhanden – man müsse die Beteiligten nur endlich an einen Tisch bringen.
Gefragt sind Fachplaner mit interdisziplinärem Know-how.
Über unabhängige Beratungsstellen könnten sich „smarte“ Planungsteams und Entscheider aus der Wohnungswirtschaft zusammenfinden.
Die Wohnungswirtschaft erwartet von Smart Home ein generationsübergreifendes, ressourcenschonendes und bezahlbaresWohn- und Gebäudekonzept.
Es geht u.a. darum, Smart Home und AAL auch als Wirtschaftsfaktor zu begreifen.