Die Farben der Sennestadt
In den 1950er-Jahren errichtet, werden für die Bielefelder Sennestadt tragfähige Perspektiven für das 21. Jahrhundert gesucht. Ein Fassadenfarbenkonzept, das die Spur der Vergangenheit aufnimmt, ist dabei ein Baustein auf dem Weg zu sichtbarer und lebendiger Identität. Die ersten Umsetzungen zeigen zudem: Die Farbempfehlung erleichtert die Abstimmungsprozesse unter den Eigentümern enorm.
Wenn sich fast 140 Wohnungsbesitzer auf ein stimmiges farbiges „Outfit“ für drei Mehrfamilienhäuser einigen müssen, sollten die Sanierungsverantwortlichen im Normalfall eines mitbringen: viel Zeit – und noch mehr diplomatisches Geschick.
Unter ganz besonderen Bedingungen ist diese Entscheidungsfindung im Sommer 2015 in der Sennestadt in Bielefeld gänzlich anders verlaufen. Die Eigentümer der Wohnungen im Luheweg 1 bis 11 einigten sich einvernehmlich und in kürzester Zeit auf eine elegante Farbgebung, die bis zum Oktober 2015 direkt umgesetzt worden ist. Die Einmütigkeit kam auf einer besonderen Grundlage zustande. Die Wohnungsbesitzer hatten sich als erste Sennestädter an dem Farbkonzept „Farben der Sennestadt“ orientiert, das eigens für diese große Wohnsiedlung entwickelt worden ist. Und dies hat eine bemerkenswerte Vorgeschichte.
Modellstadt mit lebendigem Anspruch
Unter den vielen neuen Städten und Stadtvierteln, die ab Mitte der 1950er-Jahre auf der grünen Wiese entstanden, nimmt Sennestadt, zwölf Kilometer südöstlich von Bielefeld gelegen, im Hinblick auf Größe und städtebauliches Konzept eine Sonderstellung ein. Ab 1955 wurde hier Wohnraum für 21.000 Menschen geschaffen. Die Pläne dazu kamen von Hans Bernhard Reichow. Der Hamburger Architekt verwirklichte hier seine Vorstellungen von einer autofreundlichen Stadt der Zukunft, die unter dem programmatischen Titel „Die organische Stadtbaukunst“ die Idee der Gartenstadt weiterentwickelte.
Bis heute ist dieses selten so deutlich verwirklichte Prinzip an den geschwungenen Gebäudezeilen und der Straßenführung ablesbar, und daher ist Sennestadt bis heute eine städtebauliche Berühmtheit: Der Plan der Siedlung ähnelt einer natürlichen Blattstruktur mit sich verzweigenden Straßenadern und bogenartig angeordneter Bebauung. Dieser organische Entwurf fügt die Mehrfamilienhäuser ebenso wie die Reihen- und Hochhäuser harmonisch in die Topografie der Landschaft am Rande des Teutoburger Walds ein.
Die Planer folgten dieser gewachsen anmutenden Idee bis in die Sichtflächen: Auf alten Fotos der Sennestadt springen die erdigen Rot- und Beigetöne, die edlen Grautöne und die gedämpften Blau- und Grünnuancen der ursprünglichen Gebäudefassaden angenehm ins Auge. Doch nicht nur diese besonderen Farben an sich, sondern auch ihre Komposition auf den Gebäudehüllen und ihre Abfolge über die Häuserzeilen trugen zur harmonischen Gesamtwirkung bei.
Nachhaltige Stadtentwicklung für mehr Wohnqualität
Fast sechzig Jahre sind seither vergangen. In den letzten Jahren kämpfte die einst begehrte Sennestadt mit dem demografischen Wandel und Image-Problemen, die alle Wohnanlagen dieser Größe kennen. Seit 2007 nimmt sich das städtebauliche Entwicklungskonzept der Stadt Bielefeld der Sennestadt an. Auf vielen Handlungsfeldern wird versucht, die Akzeptanz der Siedlung zu erhöhen: von einer Aufwertung der Architektur und Quartierqualität bis hin zu zeitgemäßen Wohnraumzuschnitten, einer Verbesserung der Verkehrsanbindung und einer nachhaltigen energetischen Sanierung der Gebäude.
Vor diesem Hintergrund wurde ein Pilotprojekt angestoßen, dessen Ergebnis den zahlreichen Hausbesitzern, Investoren und Wohnbaugesellschaften als praktisches Instrument bei Sanierungsvorhaben übergeben wurde. Unter dem Titel „Farben der Sennestadt – Farbkollektion mit Geschichte“ entfaltet sich eine für die Siedlung maßgeschneiderte Kollektion von Fassadenfarbtönen. Die konzeptionelle Kollektion öffnet so die Tür, der Sennestadt auch farblich wieder ein erkennbares Gesicht zu geben. Eine möglichst durchgängige Anwendung der Farbkollektion soll zu einem optisch geschlossenen Stadtbild beitragen – mit großem Gewinn für die Identität des Orts und die Werthaltigkeit jedes einzelnen Gebäudes.
Farben mit städtebaulicher Qualität
Peter Holst (92) kennt die Idee hinter der ursprünglichen Farbgestaltung der Sennestadt: Er hat sie selbst mitentwickelt. Der Architekt, der beim Bau der Siedlung dem Büro von Hans Bernhard Reichow angehörte, hat sein Wissen und Farbgespür 2013 in die Entwicklung der neuen Farbkollektion eingebracht. Zusammen mit alberts.architekten und der Brillux Farbdesignerin Hanne Fink hat er die historischen Fassadenfarben rekonstruiert und zeitgemäß interpretiert.
Die Farbkollektion für die Sennestadt enthält 30 Fassadenfarbtöne und neun Akzentfarben. Gleich fällt auf: Alle Nuancen haben eine ähnliche Sättigung und einen ähnlichen Grauwert. Durch diese Abtönung sind alle 39 Sennestadt-Farben miteinander harmonisch kombinierbar. Die neun Akzentfarben wurden speziell für die Gestaltung von Sockeln, Haustüren und Treppenhausfenstern entwickelt. Die Fassadenfarben wirken besonders authentisch auf einem groben Putz, wie er in den 1950er- und 1960er-Jahren verwendet wurde. Ebenfalls beachtet haben die Entwickler der Farbkollektion, dass sich die Farbtöne sowohl in mineralischen als auch anorganischen Beschichtungen verwirklichen lassen.
Musterentwürfe verdeutlichen das Konzept
Neben den passenden Farben ist natürlich die Komposition der Farbtöne auf den Fassaden interessant für die harmonische Gesamtwirkung. Auch hierzu haben Peter Holst und Hanne Fink in ihrem Farbkonzept exemplarisch Entwürfe erarbeitet, z. B. für einige der Mehrfamilienhäuser und Reihenhaustypen der Sennestadt. Ein besonders prägendes Gestaltungsmittel, das schon die „Gründerväter“ um Reichow angewendet haben, findet sich hier wieder. Rund um die Fenster befanden sich früher durchgängig ca. zwölf bis 15 cm breite Faschen in strahlendem Weiß. Mit dieser einfachen Akzentuierung gelingt auch heute noch eine elegante grafische Gliederung der Fassaden, die Peter Holst als „festlich“ beschreibt. Weitere Bauelemente wie Balkonbrüstungen lassen sich, so die Empfehlung, im selben klaren Weiß fein absetzen.
Doch nicht nur für die einzelne Gebäudefassade, sondern auch für die Verteilung der Farben im gesamten Wohngebiet gibt das Farbkonzept Leitideen: Eine Farbabfolge, die von Häuserzeile zu Häuserzeile stark farbige Fassaden mit Fassaden in Grautönen kombiniert, ergäbe einen idealen Farbrhythmus. Im Sinne einer spannungsreichen, doch visuell verbindenden Optik der Sennestadt ist daher eine farbige Abstimmung zwischen den einzelnen Hausbesitzern sehr wünschenswert.
Die Praxis zeigt – es funktioniert
Am Luheweg beweisen die drei jüngst nach der mit den Farbtönen aus der Sennestadt-Farbkollektion gestalteten Objekte, wie gut die Empfehlung in der Praxis funktioniert – von der Entscheidungsfindung bis zum Ergebnis. „Die Wohnungsbesitzer wollten sich unbedingt aus den von uns bestimmten Farbtönen für die Sennestadt-Farbkollektion bedienen“, erinnert sich Hanne Fink. Ein Farbraum, der begrenzt und in sich schlüssig begründet ist, erwies sich für die Eigentümer als Vorteil. Statt aus vielen Tausend möglichen Farbtönen langwierig und allein nach Maßgabe des individuellen Geschmacks zu wählen, gab die Farbkollektion Orientierung und Sinnhaftigkeit, die sich aus den historischen Wurzeln der Farbtöne und aus einem Wir-Gefühl bezüglich der Verantwortung für das gesamte Stadtbild speiste.
Die Eigentümerversammlung wünschte sich einhellig einen hellen Gelbton, ähnlich dem Bestand für die Mehrfamilienhäuser. Das Brillux Farbstudio Braunschweig visualisierte einen Entwurf für die drei Mehrfamilienhäuser in unterschiedlichen Gelbfarbtönen, die spannungsvoll, aber zugleich harmonisch kombiniert sind. Umgesetzt geht das Konzept auf: Die schlichten Fassadenflächen entwickeln allein durch die stimmigen Farbkomposition und die „festlichen Faschen“ eine charaktervolle Aussage.
Information fördert die Beteiligung
Die Farbkollektion für die Sennestadt bietet viel Spielraum für Individualität und birgt die Chance, durch gemeinsame Farbgestaltung einen verbindenden visuellen Rahmen zu schaffen. Das wurde und wird von den Verantwortlichen auf vielfältigen Wegen kommuniziert. In Informationsveranstaltungen und einer Informationsbroschüre der Sennestadt GmbH wurde das Farbkonzept vorgestellt. Der eigens aufgelegte Farbfächer „Farben der Sennestadt“ macht die Kollektion sicht- und greifbar. Der Farbkollektion wurde von Brillux produziert und ist für die Entscheider der Sennestadt GmbH und die Vertreter der größten Immobilieneigentümer bestimmt. Die Website www.sennestadt-farben.de zeigt Hintergründe zum Farbkonzept und vermittelt in Entwürfen und Dokumentationen eindrücklich, welche Kraft und Möglichkeiten in dem Farbkanon liegen.
Weitere Umsetzungen in Planung
In nächster Zeit wird die Farbkollektion „Farben der Sennestadt“ z. B. für die Gestaltung einer Reihenhausanlage der Sennestadt und auch von Neubauvorhaben im Quartier zugrundegelegt.„Bewusst haben wir auch warme Grau- und Weißtöne in die Empfehlung aufgenommen, um für die Farbgestaltung moderner Bauten eine passende Auswahl vorzulegen“, so Hanne Fink. Es wird spannend zu beobachten sein, wie sich dieser äußerst fundiert vorbereitete Stadtentwicklungsprozess in fünf oder zehn Jahren darstellen wird: Die Verantwortlichen wünschen sich natürlich, dass möglichst viele der zahlreichen Hausbesitzer bei ihren jeweiligen Einzelsanierungsvorhaben das Gesamtensemble der Sennestadt im Blick haben werden. Und Hanne Fink? Sie freut sich bereits auf die ersten Hausbesitzer, die die starken Töne der Kollektion – wie das ausdrucksvolle Blaugrün – für ihre Gebäude entdecken werden.
Auf alten Fotos der Sennestadt springen die erdigen Rot- und Beigetöne, die edlen Grautöne und die gedämpften Blau- und Grünnuancen der ursprünglichen Gebäudefassaden angenehm ins Auge.