„Es geht nicht mehr nur um den reinen Stromtarif“
Für viele Branchen ist die Corona-Krise ein Digitalisierungsprüfstand, für Energieversorger ist sie nur ein Beschleuniger unter vielen. Im Interview erklärt Anke Morlath, Bereichsleiterin des EVU Competence Center der Aareon Deutschland GmbH, wie es um die Digitalisierung der Energiebranche steht und warum gerade an der Schnittstelle zur Immobilienwirtschaft wichtige Optimierungspotenziale liegen.
Frau Morlath, was unterscheidet die Energiewirtschaft heute von der vor 20 Jahren? Ist das eine Veränderung oder eine Neuerfindung, und welche Themen haben hier Einfluss?
Morlath: Ich denke, die Energiewirtschaft ist, bedingt durch verschiedenste Faktoren, schon frühzeitig angehalten gewesen, neue Rollen anzunehmen. Die Digitalisierung ist nur ein Faktor, der den grundlegenden Wandel vom Commodity-Lieferanten zum Mehrwert-Dienstleister beschleunigt hat.
Begonnen hat dieser Rollenwechsel mit der Liberalisierung des Strommarktes in den 1990er Jahren, was zu neuen Angeboten, kundenfreundlichen Preisstrukturen und neuen Allianzen im Energiemarkt geführt hat. Mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz und auch der Digitalisierung des Messstellenbetriebs gab es weitere gravierende Veränderungen für Netzgesellschaften sowie Messstellenbetreiber – die Energieerzeugung wurde dezentraler, der Rollout von Smart Meter stand an. Und 2011 begann der zeitlich gestaffelte Ausstieg aus der Atomenergie.
In den letzten Jahren sind es vor allem die 5-D-Themen, die Veränderungen in der Energiebranche beeinflussen: Dekarbonisierung, Dezentralisierung, Demografie, Diversifizierung und eben Digitalisierung. Man sieht also, die Energiebranche hat in den letzten Jahrzehnten bereits ein hohes Maß an Flexibilität und Veränderungswillen aufbringen müssen. Das funktioniert nur, wenn Unternehmen bereit sind, die eigene Rolle auch immer wieder zu hinterfragen und neu zu erfinden.
Wie meistert die Branche diese Herausforderungen? Was wird vielleicht noch übersehen und wie steht es um die Digitalisierung?
Morlath: Die Digitalisierung der Energiewirtschaft ist eingebettet in ein ganzes Bündel von Themen. Verstärkt wird der Digitalisierungsdruck aber zusätzlich durch veränderte Kundenansprüche. Da ist zum einen der digitale Endkunde, der eine umfassende Customer Experience – den Kundenservice als Erlebnis – erwartet. Der Kunde möchte Mehrwerte – der Energielieferant soll nicht nur Prozesse anbieten, sondern auch ein Mehr, wie beispielsweise ergänzende Leistungen im Non-Commodity-Umfeld.
Das hat zur Folge, dass die Energiewirtschaft Standards schaffen oder auf Standards reagieren muss, die in anderen Branchen gesetzt werden. Hier ist die Immobilienwirtschaft zu nennen. Aufgrund des überlappenden Kundensegments gibt es einen gemeinsamen Digitalisierungsdruck seitens der Kunden, der in zusätzlicher Produktentwicklung der Energieversorgungsunternehmen mündet. Energielieferanten erfahren bei der Digitalisierung sowohl aus dem eigenen Geschäftskundenumfeld als auch von innen einen zunehmenden Druck.
Es geht nicht mehr nur um den reinen Stromtarif. Für alle Marktrollen wachsen die Anforderungen durch neue Themen im Umfeld von E-Mobilität sowie Themen in der Quartiersentwicklung, aber auch durch die Smart City. Das heißt im Umkehrschluss, dass Versorger ihr Leistungsportfolio ausweiten müssen, um attraktiv zu bleiben.
Auf der Netzseite wiederum ist der Druck stark innengetrieben. Da müssen ständig Prozesse weiter optimiert werden, um die Netzstabilisierung sicherzustellen und den Kostendruck handzuhaben. Auch das kann nur mithilfe der Digitalisierung gelingen. Die Energiebranche ist gut gestartet in ihre digitale Transformation – jetzt gilt es aber, das Tempo anzuziehen und dort, wo man allein nicht weiterkommt, die richtigen Partner ins Boot zu holen. Wie im IT-Bereich: Der zunehmende Einsatz zeitgemäßer IT in der Leistungserstellung der Energieunternehmen lässt die Grenzen zwischen IT-Branche und Energiewirtschaft verschwimmen. Das Thema Digitalisierungsstrategie geht einfach nicht ohne das Thema IT.
Gleiche Anforderungen haben die Messstellenbetreiber, die nun – nach Verabschiedung des Rollouts – erst durchstarten.
Warum rücken Immobilien- und Energiewirtschaft sowie Wärmemessdienste durch die Digitalisierung enger zusammen?
Morlath: Die Verbindung zwischen Immobilienwirtschaft, Wärmemessdienst und Energieversorgung wird immer bedeutender. Metering und Submetering rücken näher zusammen. Grundlage für alle Partner ist es, Daten digital auszutauschen. Sei es im Umfeld von Wohnungswechseln oder auch bei weiteren Prozessen in Bezug auf gesetzliche Themen. Dazu gehören u. a. der elektronische Austausch von ein- und ausgehenden Rechnungen, Verbrauchsinformationen an Mieter oder die freie Wahl des Messstellenbetreibers aufgrund gesetzlicher Vorgaben.
Die Immobilienwirtschaft ist gewissermaßen die Schnittstelle, an der sich mit Blick auf eine gemeinsame Kundengruppe – die Mieter, die zugleich Versorgungskunden sind – alles bündelt. Zukunftsthemen sind in beiden Branchen ähnlich: Beispielsweise der Einsatz künstlicher Intelligenz (KI), aber auch die dezentrale Energieerzeugung, Smart Home und E-Mobilität sind für Marktteilnehmer beider Branchen relevant. Die Kooperation der Branchen ist mit Blick auf den Kunden zur Notwendigkeit geworden. Gelingt der digitale Schulterschluss über Branchengrenzen hinweg, können sie ihren Kunden einen echten Mehrwert bieten, indem sie Lösungen und Tools entwickeln, die ihren B2B-Kunden helfen, den eigenen Digitalisierungsdruck abzufedern.
Aareon arbeitet mit ihren Lösungen an der Schnittstelle der Branchen. Welche Potenziale liegen darin?
Morlath: Ganz besonders deutlich werden die Vorteile einer Vernetzung von Energie- und Immobilienwirtschaft sowie Wärmemessdienstleistern beim Thema Wechsel- und Leerstandsmanagement. Die Branchen sind in den aufwendigen Prozess des Mieterwechsels involviert. Die Erfassung und Weitergabe von Zählerständen, Verbrauchsabrechnungen, Datenübergabe – all das geschieht zwischen den genannten Akteuren, die ihre eigenen IT-Systeme einsetzen.
Ein solcher Datenabgleich über mehrere Systeme hinweg birgt Fehlerquellen und erfordert einen hohen Arbeitsaufwand. Wer hier auf branchenübergreifende Lösungen wie ein digitales Mietermanagement setzt, spart buchstäblich Geld, stärkt die eigene Prozessoptimierung und verbessert den Kundenservice. Gleiches gilt auch für den Stammdatenaustausch zum Wärmemessdienst als Grundlage für die Optimierung der täglichen Betriebsprozesse, aber auch für Prozesse zur Umsetzung der Energieeffizienzrichtlinie (EED).
Nicht zu vergessen das elektronische Rechnungswesen: Die Immobilienwirtschaft wünscht sich komplett digitalisierte Prozesse, doch längst nicht jeder Lieferant berücksichtigt dies. Wenn Lieferanten aus der Energiewirtschaft oder auch Wärmemessdienstleister Rechnungen digital im ERP-System bereitstellen, stärken sie ihre Kundenbindungen in die Immobilienwirtschaft.
Cross-Industry-Ansätze sind längst keine Kür mehr, sondern werden Notwendigkeit: Ab Herbst 2020 greifen mit der europäischen EED neue politische Vorgaben. Ab dann müssen die neu installierten Zähler für Wärme und Wasser fernauslesbar sein, und eine halbjährliche Kommunikation der Verbräuche an Mieter wird Pflicht. Es wird zukünftig also darum gehen, die Energieversorgung der Menschen auf Basis intelligenter und vernetzter IT-Lösungen sicherzustellen. Ohne branchenübergreifende Kooperationen wird das nicht funktionieren.
Welche Produkte und Dienstleistungen bietet Aareon der Energiewirtschaft in diesem Zusammenhang, und was können diese leisten?
Morlath: Wir entwickeln Produkte und Lösungen, die helfen, Energie- und Immobilienwirtschaft, aber auch Kommunen und Wärmemessdienstleister näher zusammenzubringen und Prozesse durch digitale Lösungen über Branchen hinweg zu vernetzen. Mit der Aareon Smart World bieten wir ein digitales, vernetztes Ökosystem, mit dem sich das komplexe Beziehungsgefüge der Immobilienwirtschaft digital steuern lässt.
Mit dem Wechselmanagement von Aareon ermöglichen wir ein optimiertes Leerstandsmanagement. Zudem bieten wir den digitalen Rechnungsdurchlauf mit dem Rechnungsportal von Aareon und beraten bei der Umsetzung von gesetzlichen Vorgaben wie der EED. Darüber hinaus haben wir Portallösungen wie das Service-Portal Mareon im Angebot für die Vernetzung und Kommunikation mit Handwerkern. Was alle unsere Lösungen verbindet, ist der Ansatz, Digitalisierung nutzbar zu machen.
Wenn wir aktuelle Trends weiterdenken: Wie sieht die Energiewirtschaft in fünf Jahren aus? Wohin geht die Reise?
Morlath: Ein vorrangiges Thema für die Energiewirtschaft ist ganz eindeutig das „Internet of Things“ – sprich: die Vernetzung von Sensoren und Geräten entlang der Versorgungsinfrastrukturen. Das ist eine Frage gerade auch der kommunalen Daseinsvorsorge – denn die Netze müssen nicht nur funktionieren, sondern über intelligente IT-Lösungen steuerbar sein. Auf einer übergeordneten Ebene geht es künftig um intelligente Lösungen für „Smart Cities“ – vernetzte Städte, in denen Dienstleistungen und Datenströme den Bürgern in Zukunft das urbane Leben erleichtern sollen, inklusive kommunaler Verwaltungsleistungen.
Das bringt uns zum zweiten wichtigen Thema: die Fokussierung auf den Kunden. Denn aus Sicht der Bewohner smarter Städte muss die Integration der digitalen Dienste einfach zu handhaben sein – am besten in einer Smartphone-App, so wie der Kunde es heute schon aus anderen Bereichen gewohnt ist. Der Kunde wird also über alle Sparten hinweg in all seinen Wünschen und Bedürfnissen auf individuell zugeschnittene Tariflösungen und Mehrwerte zurückgreifen können. Und diese auch verlangen. Unternehmen, die sich bisher nur um sich und ihre Produkte drehen, werden es schwer haben.