Experiment Stadtalltag
Stadtentwicklung ist komplex, und die Zusammenarbeit im Alltag ist eine Möglichkeit, diese Komplexität zu verstehen. Ein Bericht über Ansätze und Projekte von Stadtmachern und Hochschulen, die im Netzwerk „Stadt als Campus“ arbeiten.
Das Ziel der Stadtentwicklung sind lebendige Städte mit einer breiten Palette an Gestaltungsmöglichkeiten. Und trotzdem veröden viele Innenstädte und stehen brauchbare Gebäude leer. Gleichzeitig haben Menschen mit Entfaltungsdrang keinen Raum, Schüler keinen Schulgarten oder alte Leute keinen Treffpunkt. Es klafft nicht selten eine Lücke in der Stadtgesellschaft, die geschlossen werden muss – und vielerorts auch wird.
Zahlreiche Beispiele aus Klein- und Mittelstädten zeigen, dass sich etwas tut. Es gibt immer mehr Initativen, die Veränderungen im Kleinen anstoßen – und die dann zu kraftvollen „Playern“ in ihrer Stadt werden. Sie hatten und haben dabei meist keinen institutionellen Rahmen, wie ihn beispielsweise eine Internationale Bauausstellung (IBA) bietet. Aber sie haben etwas mit einer IBA gemein: Es geht um Veränderungen in einer Art Laborsituation. Üblicherweise steht der „großen Nummer“ der verordneten Ausnahmesituation der Alltag gegenüber – mit Planungsaufgaben, Stadtentwicklungskonzepten und organisierter Bürgerbeteiligung. Doch braucht man überhaupt einen politisch oder planerisch gesetzten Rahmen für die Arbeit an der Zukunft?
Der Wunsch, ganz konkrete Verhältnisse in ihrer Stadt zu verändern, und das einfach, weil es notwendig war, eint die Initiatoren, die sich im Netzwerk „Stadt als Campus“ zusammengefunden haben. Dazu gehört als treibende Kraft meistens eine Hochschule. Wichtig ist das Zusammenspiel verschiedener Ressorts und Disziplinen. In Städten wie Merseburg oder Dessau kommen Fachleute und Stadtbewohner zusammen, die sonst selten miteinander arbeiten, in unterschiedlichen Zusammensetzungen – mit der Jugend, mit den Studierenden, mit den Senioren, mit der Verwaltung und mit der Wirtschaft. Sie alle zusammen sind eine Art „Research Group“ für die Stadterfahrung und -verbesserung. Sie entwickeln Strategien und testen, was im Alltag – der Verwaltung, der Stadtpolitik, der Bürgerschaft und der Hochschule – möglich ist. Diese langfristig agierenden Bündnisse vieler Beitragender gestalten nach und nach und irgendwann kontinuierlich gemeinsam Stadtentwicklung – als Normalzustand.
Beispiel: Merseburg
Die Stadt Merseburg und ihre Hochschule leiden unter einem enormen Pendelverkehr in Richtung Halle und Leipzig und diskutieren seit langem geeignete Strategien zur Milieuentwicklung und kulturellen Aktivierung der Innenstadt. Im Rahmen des Seminars „Kulturpädagogische Arbeit: Stadtkultur“ entwickelten Studierende der Kultur- und Medienpädagogik verschiedene Konzepte zur Belebung innerstädtischer Gebäude.
In einem der Objekte konnte daran anknüpfend mit dem Eigentümer und einem Trägerverein ein Vertrag geschlossen werden, der studentisches Wohnen und stadtkulturelle Nutzungen ermöglicht. Die ehemalige Dom-Apotheke stand viele Jahre leer und ist Teil eines Straßenzugs, der stark durch Leerstand belastet ist, obwohl er das Scharnier zwischen den touristisch interessanten Punkten darstellt. Das Haus erfährt seit 2012 eine Wiederbelebung durch die jungen Leute, die in der oberen Etage wohnen, im Erdgeschoss Kultur schaffen und Raum für weitere kulturelle Aktivitäten zur Verfügung stellen.
Als „Domstraße 2“ wurde das Gebäude fester Anlaufpunkt für Kreative, Freidenker und Kulturinteressierte und ist als selbst organisiertes Wohn- und Kulturprojekt mit „öffentlichem Wohnzimmer“ ein dauerhafter, lebendiger Bestandteil im Stadtleben. Einer der wichtigsten Partner ist der Eigentümer, der den ersten Schritt auf die Stadtverwaltung und auf die Hochschule zu machte und seine Immobilie für alternative Nutzungskonzepte zur Verfügung stellte. Bei den Bauarbeiten hat er selbst mit Hand angelegt, die Studierenden in ihren Vorhaben unterstützt, und er steht weiterhin mit Rat und Tat zur Seite.
Langfristiges Ziel ist es, Stadt und Hochschule noch enger miteinander zu verbinden, möglichst mit einer Vernetzung aller Ebenen, vom alltäglichen Leben über das Hochschul- und Stadtmarketing bis zur Kultur.
Beispiel: Dessau-Roßlau
Dessau-Roßlau hat ebenso wie Merseburg mit dem demografischen Wandel zu kämpfen. Der Großteil der Studierenden und Mitarbeiter der Hochschule Anhalt am Standort Dessau pendelt. Die Verankerung von jungen Menschen in der Stadt ist marginal, was sich auch in einem sehr überschaubaren Angebot für sie widerspiegelt. Dabei ist das Potenzial der Hochschulen, in kleinen und Mittelstädten wichtige Funktionen zu übernehmen, noch nicht ansatzweise ausgeschöpft. Der Fachbereich Design der Hochschule Anhalt hat sich dieser Problematik angenommen und testet aus, was möglich ist. Inzwischen wurden viele Bündnispartner gewonnen, und es gibt zwei Orte in der Stadt, die ein neues Zusammenleben möglich machen:
Das Prinzip VorOrt funktioniert durch Sichtbarkeit und die Kommunikation darüber. VorOrt ist nie fertig, sondern entwickelt sich mit seinen Nutzern. Ziel ist es, Dessau-Roßlau als lebens- und liebenswerten Ort für potenzielle Studierende und Neubürger zu qualifizieren. VorOrt ist deshalb nicht nur der Name, sondern das Programm.
Entwicklungspartner ist das Dezernat für Wirtschaft und Stadtentwicklung. Eine Rahmenvereinbarung definiert Leitbild, Ziele, Arbeitsweise und Organisation. Mittlerweile ist das Modell VorOrt integraler Bestandteil sowohl des Kulturentwicklungsplans als auch des Integrierten Stadtentwicklungskonzepts.
Unterschiedliche Herangehensweisen – vergleichbare Haltungen
Ein wichtiger Aspekt für den Erfolg dieser Projekte ist, dass sie die Chance hatten, nicht von vornherein auf einen Erfolg festgelegt zu werden. Auf dem Prozess lag nicht der Druck, dass alles vorzeig- und abrechenbar ist. Gleichzeitig haben die Akteure nur sehr geringe Mittel, sind stark aufeinander angewiesen und benötigen für die Verstetigung Mittel, die nicht leicht zu beschaffen sind.
Doch zeigen diese Ansätze, was möglich ist. Die Zusammenarbeit lässt eine neue Stadt-Intelligenz entstehen. Und sie kann ein neues „Stadt-Gefühl“ kreieren, das auch das Image der Stadt nach außen verändert. Im Idealfall entsteht eine dauerhafte Dynamik, die auch das gängige Nörgeln über Widrigkeiten zu einem Blick auf das Stadtwohl verändert.
Das Möglichkeitsfeld zwischen alltäglichem Verwaltungshandeln und verordnetem Ausnahmezustand ist groß: mit Konzentration auf das Handlungswissen der Verwaltung und den Alltag der Stadtbewohner. Die sonst getrennten Handlungsansätze Bottom-up und Top-down werden im Idealfall zu zwei Seiten ein und derselben Medaille. Für Politik und Verwaltung bedeuten solche Projekte in ihrer Stadt neue, nicht immer einfache Wege, aber auch große Chancen.
„Research Group“ für die Stadterfahrung und -verbesserung.