Plattenbau wird zum Vorzeigeprojekt
Von unschönen Kastenbauten zu attraktivem Wohnraum: In Aschersleben wurde jetzt das erste von drei Mehrfamilienhäusern verwandelt. Die Häuser hat man saniert, gedämmt und in eine hohe Energieautarkie gebracht. Damit hat die Bauherrenschaft das Quartier in einen neuen Zyklus der Nutzung überführt und den Weg in die Klimaneutralität beschritten. Schon heute erfüllt man den Energiestandard, den die Bundesregierung ab 2045 plant.
Am Rande der ältesten Stadt Sachsen-Anhalts hatte man das Gebäude-Ensemble Anfang der 1970er Jahre mit drei baugleichen Vierspännern errichtet. Nach rund 50 Jahren und nur geringfügigen Modernisierungen waren die Bauten aber inzwischen sehr in die Jahre gekommen. Die heutigen Eigentümer – die Ascherslebener Gebäude- und Wohnungsbaugesellschaft mbH (AGW) – wollte diesen Zustand ändern. Das Ziel: der teilweise Rückbau des Ensembles mit Abriss einzelner Anteile, die Verringerung der Geschosshöhe und die Revitalisierung der Restgebäude.
Aus den Resten der früheren „Wohnwürfel“ ist in den Baujahren 2020 bis 2023 ein neues und einzigartiges sowie sehr zukunftsweisendes Bauprojekt entstanden. Auf dem rund 14.000 Quadratmeter großen Areal der Bestandsbauten an der Kopernikusstraße 10-16 gibt es nun die ersten 22 energieeffizienten Wohnungen mit Wohnflächen zwischen 65 und 120 Quadratmetern. Hinzu kamen zwei E-Tankstellen mit vier Ladepunkten, die sich aus dem vom Dach gewonnen Sonnenstrom speisen: für eigenen E-Mobile oder für ein geplantes Car Sharing Projekt. Zudem entstanden 16 weitere Stellplätze für PKW zu den bereits bestehenden. Als Mieter konnte man viele Familien für die Familienwohnungen, als auch ältere Personen für die barrierearmen Wohnungen ansprechen. Die Außenanlagen werden entsprechend gestaltet. Und das ist erst der Anfang.
Modern und zukunftsorientiert
Heute sind die Wohnungen des ersten Bauabschnitts modern und zukunftsorientiert und nach der Sanierung sogar äußerst energieeffizient. Das Projekt basiert auf einem Konzept des Autarkieteams, das der Energiewissenschaftler Prof. Timo Leukefeld leitet. Die gewählte Sanierungsart für das Gebäude-Ensemble ist europaweit derzeit einzigartig. Die Gebäude werden jetzt – der Energiekrise zum Trotz - mit Infrarotheizung, den vom Autarkieteam entwickelten Autarkieboilern, Photovoltaik und Akku-Hochleistungsspeicher der Fa. Tesvolt ausgestattet. Das erste sanierte Gebäude konnte im Mai 2023 eingeweiht werden.
Alle Wohnungen wurden inzwischen über eine spezielle Flatrate vermietet (siehe Kasten „Pauschale Flatrate als Miete“). Die Reaktionen der Mietparteien sind durchweg positiv. Den Wohnraum zu einer Pauschalmiete zu nutzen, die neben den Kosten für Wohnen auch alle weiteren Wohn-Nebenkosten enthält, macht die Ausgaben auf Jahre planbar und kommt sehr gut an.
Gute Bausubstanz
Laut der beteiligten Experten war die Substanz bemerkenswert gut erhalten, die Betonbauten konnten in ihrer Basis als Grundlage für die Sanierung genutzt werden. Insbesondere die graue Energie, die in den Betonfertigteilen und dem Kellergeschoss steckt, ist für die Experten in Bezug auf Klimaschutz, Ressourcenschonung und „cradle to cradle“- Nachhaltigkeit und Kreislaufmaterialwirtschaft nutzenswert und wichtig.
„Der bestehende Betonbau dient selbst als Speichermasse. Beton ist ein hervorragender Energiespeicher für die Wärme, die von den Infrarotheizungen ausgeht“, berichtet Mike Eley, Geschäftsführer der Ascherslebener Gebäude- und Wohnungsbaugesellschaft mbH (AGW). Er befasst sich mit Vorliebe mit dem Aufbereiten alter Bauten und der Erstellung von modernem Wohnraum in allen Stadtteilen Ascherslebens. „Wir haben in dem Viertel schon viel stemmen können“, fügt er hinzu. Auch dieses Bauvorhaben steht erst am Anfang. Im Laufe der nächsten Jahre sollen die zwei weiteren zugehörigen Bauten auf dieselbe Weise revitalisiert und möglichst autark gemacht werden.
Um die wertvolle Substanz als Basis zu nutzen, hat man zunächst die Gebäude zurückgebaut und vollständig entkernt. Lediglich die Außenwände aus Betonfertigteilen und die tragenden Innenwände hat man als Grundlage belassen. Die ursprünglich mit den Deckenplatten betonierten Balkone ließ man jedoch abreißen. Stattdessen wurden neue Balkone verwirklicht und der jetzt in neuen Grundrissen geplante Wohnraum verbessert und in der Wohnqualität gesteigert. Zunächst hat man dafür die oberen beiden Stockwerke abgetragen und ein Gebäude-Segment inklusive Eingang rückgebaut – mit dem Ziel der städtebaulichen Aufwertung des wohnungsnahen Freiraums.
Einer der drei Aufgänge wurde barrierearm mit einem Aufzug im Treppenhaus ausgestattet, die beiden anderen mit Treppenaufgängen.
„Wir haben durch den Einsatz von rund 24 Zentimeter an den Wänden und 30 Zentimeter Dämmung im neu errichteten Pultdach den Wärmeschutz auf den Standard Effizienzhaus 55 verbessern können“, so Eley. Genutzt wurde ein Wärmedämm-Verbundsystem (Polystyrol) plus Scheibenputz an der Oberfläche.
Energie-Konzept - Zu zwei Dritteln energieautark
Der Clou: Strom aus großflächigen Photovoltaikanlagen am Gebäude heizt über die effizienten Infrarotelemente direkt die Wohnungen, integrierte Akkus puffern die tagsüber erzeugte Elektrizität. Haushaltsstrom und die Energie für das im Car-Sharing zu betreibende E-Auto kommen ebenfalls von der eigenen PV-Anlage. Dafür wurden auf dem Dach Photovoltaikmodule mit insgesamt 114 Kilowatt Leistung installiert, dazu kamen Module mit 71 Kilowatt Leistung an den Fassaden in Richtung Süden, Osten und Westen. Die Solaranlage liefert rund 60 % des gesamten Bedarfs für Heizung, Warmwasser und Haushaltsstrom. Drei Speichersysteme sichern den gesamten Low-Tech-Ansatz ab.
Strom und trotzdem unabhängig
Im Winterhalbjahr wird Ökostrom zugekauft. Den Verzicht auf Wärmepumpen und wasserführende Fußbodenheizungen begründen die Experten mit verschiedenen Aspekten. „Der Heizungsmarkt befindet sich in einem gravierenden Wandel. Wir gehen davon aus, dass hierzulande künftig viele strombetriebene Heizungen eingebaut werden.“ Aktuell sind das vor allem Wärmepumpen. „Wir befürchten aber, dass sich in Deutschland der derzeitige Handwerker-Mangel noch verschärfen wird“, so Eley. „Deshalb setzen wir auf die sehr effizienten Infrarotheizungen und somit auf Unabhängigkeit durch weitestgehende Wartungsfreiheit. Wir gehen davon aus, dass andere diesem Beispiel folgen werden.“
Einen Nachteil benennt er auch: „Gegenüber einer Wärmepumpenanlage ist der Energieverbrauch der vor allem an den Decken montierten Infrarotelemente um etwa 20-30 Prozent höher,“ sagt er. „Da aber beim Heizen kaum Umwandlungs- und Speicherverluste auftreten, empfinden wir das als verkraftbar. Erfahrungsgemäß bietet die Infrarotheizung zugleich mehr Behaglichkeit, das hören wir zumindest von den Nutzern“, fügt er hinzu.
Kurzzeitspeicherung und AKKUS
Der Clou bei dem System ist die Speicherung der Sonnenenergie. Sie teilt sich in drei wesentliche ineinander greifende Ebenen auf:
1. Zuständig für die Kurzzeitspeicherung nachts sind Photovoltaik-Akkus im Gebäude mit einer nutzbaren Kapazität von 120 Kilowattstunden. Das bietet eine kurzzeitige Speicherung für etwa einen Tag.
2. Die maßgeblich wichtige Warmwasserbereitung benötigt ebenfalls Energie. Dafür hat das Autarkieteam einen Trinkwasserboiler selbst entwickelt. Pro Wohnung ließ die AGW einen Boiler mit je 200 Litern Fassungsvermögen aufstellen. Der Boiler speichert ebenfalls für ein bis zwei Tage. Durch die geringe Leistung erwärmen sie über den Tag verteilt das Wasser und vermeiden so Lastspitzen. Die beiden integrierten Heizstäbe mit je 2 kW Leistung sind zum einen für Netzstrom und zum anderen für den vorrangig aktiven PV-Strom ausgelegt.
3. Die dritte Säule ist langfristiger orientiert: Denn dafür ist das Speicherkonzept das Gebäude selbst. Die Betonteile werden thermisch durch die Infrarotheizung aktiviert und speichern - durch ihre große Masse - die Wärme der Infrarotstrahlung, die auf die Wände trifft. Die Wärme kommt zeitversetzt noch nach Stunden aus den Wänden zurück.
Eine kostenintensive, verlustreiche und für Legionellen riskante Warmwasserinstallation ist nicht nötig. 80 Prozent des Warmwasserbedarfs sollen so solar gedeckt werden. „Wir haben zwar einen höheren Energieverbrauch gegenüber einer herkömmlichen Wärmepumpenanlage – aber in der Gesamtrechnung sehen wir einen Gewinn für Vermieter und Mieter. „Die Installation war im Vergleich zu einer Wärmepumpenanlage deutlich günstiger“, sagt Mike Eley.
Ein bis zwei Infrarotheizelemente sind je Raum installiert, die in ihrer Leistung dem Wärmebedarf des Raumes angepasst werden können. „Diese lassen sich schnell und einfach regeln, Verschleißteile gibt es keine“, berichtet er.
Monitoring ist in Planung
Eine Monitoringphase ist fest eingeplant. „Wir beobachten derzeit die Berechnungen und die Kosten in ihrer Entwicklung sehr genau und werden die anderen beiden Gebäude genauso umbauen“, sagt Mike Eley. Dann wird sich auch zeigen, ob sich die Erwartungen hinsichtlich Behaglichkeit in den Wohnungen und der Regelung der Infrarotelemente erfüllen und wie das Konzept langfristig bei den Mietern ankommt.
Das Bauvorhaben zeigt, dass aus unscheinbaren Plattenbauten hochwertiger Wohnraum mit einem Plus an zukunftsfähigen Energie-Systemen realisiert werden kann.
Modell IW 64 Typ Halle
Was heute wie ein Schuhkarton wirkt, war zu Zeiten der DDR ein überaus modernes Beispiel für serielles Bauen und bestens geeignet für die damaligen Bedürfnisse junger Familien zu Zeiten der DDR. Ein System, das man zeitsparend und wirtschaftlich „zusammenstapeln“ konnte – der sogenannte „industriell errichtete Wohnbau“ - gefördert und gesteuert von dem Wohnungsbau-Unternehmen „Braunkohle-Kombinat.“ Die tragenden Wände wurden parallel zu den Fassadenbauteilen angeordnet. In Aschersleben lässt man das damalige „Modell IW 64 Typ Halle“ neu aufleben und bringt es in die heutige Zeit modernen Wohnens – mit energieeffizienten Upgrades.
„Heizen mit Infrarot“
Die kurzwelligen Infrarotstrahlen der Sonne wandeln sich erst bei Auftreffen auf ein Medium in langwellige Wärmestrahlen um. Die Oberflächen erwärmen sich durch diese Heiz-Art leicht und gleichmässig, was ein schnell erreichbares Wärme- und Wohlgefühl erzeugt. Es gibt keine kalten Flächen mehr. Zum Einsatz kamen qualitativ hochwertige und leistungsstarke Infrarotprodukte der Fa. Easytherm aus Österreich.
Pauschale Flatrate als Miete
Alle Wohnungen konnten zügig vermietet werden. Mit großem Interesse wurde von den Mietern die ins Leben gerufene Flatrate angenommen. Angewendet wird eine Pauschalmiete von 11,50 €/m² für die Wohnungen ohne Lift, für die Wohnungen mit Aufzug 12,00 €/m² inklusive Energieflatrate - für 5 Jahre fest garantiert. Sie enthält alle Kosten für Wohnen, Heizen, Kalt- und Warmwasser sowie Haushaltsstrom und einen Stellplatz.
Die Nutzer befürworten die Sicherheit einer Flat-Miete, um über lange Zeiträume besser kalkulieren zu können. Zusätz-liche Attraktivität soll zukünftig das Angebot eines Carsharing-Modells bieten, welches die AGW ihren Mietern besonders günstig anbieten möchte.„Damit können dann Haushalte, die wenig Auto fahren, ihre Mobilitätskosten deutlich senken“, so Mike Eley.