Was bedeutet Barrierefreiheit in Zentimetern?

Mit steigender Lebenserwartung wird barrierefreier Wohnraum zunehmend attraktiv. Aus baurechtlicher Sicht gestalten sich dessen Planung und Umsetzung allerdings komplex. Die Expertengruppe „Barrierefreies Bauen“ von TÜV SÜD Industrie Service kennt die Besonderheiten.

Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels steigt die Nachfrage nach barrierefreiem Wohnraum. Die baurechtliche Situation stellt Planer und Architekten jedoch vor Herausforderungen, denn die Umsetzung der Barrierefreiheit als Rechtsbegriff nach dem Behindertengleichstellungsgesetz (BGG 2002) ist Ländersache. Wie und in welchem Maße Barrierefreiheit zu realisieren ist, wird in der Bauordnung des jeweiligen Bundeslandes (LBO) festgelegt. Erst die genaue Kenntnis um baurechtliche Bestimmungen schafft Rechtssicherheit und ermöglicht eine an das Bauprojekt  angepasste Kostenkalkulation.

Die neue Norm im Landesbaurecht

Die bautechnischen Anforderungen für die barrierefreie Umweltgestaltung wurde in der Norm DIN-18040 neu formuliert. Letztere besteht aus den Teilen 18040-1 (Öffentliche Gebäude), 18040-2 (Wohnungsbau) sowie 18040-3 (Öffentlicher Verkehrs- und Freiraum, zurzeit im Entwurf). Diese sind den Bundesländern zur Anwendung empfohlen. Mit  Aufnahme der Norm in die Liste der Technischen Baubestimmungen (LTB) werden sie auf Landesebene rechtsverbindlich. Für die Realisierung barrierefreier Bauprojekte ist daher fallweise die Rechtsgrundlage im jeweiligen Bundesland zu prüfen, nämlich welche gesetzlichen Vorgaben gelten und in welchem Umfang und Qualität Barrierefreiheit zu gewährleisten ist.

Ein Blick auf die aktuelle Situation zur Barrierefreiheit im Wohnungsbau macht die unterschiedlichen Regelungen in den Ländern deutlich: Während die neue DIN-18040-2 beispielsweise in Hessen  in die Liste der Technischen Baubestimmung aufgenommen und somit baurechtlich eingeführt ist wurde, ist das in Rheinland-Pfalz nicht der Fall, ebenso in Baden-Württemberg, Bremen und Nordrhein-Westfalen. Hinzu kommt, dass die einzelnen Bundesländer die Norm 18040-2 graduell in unterschiedlicher Ausprägung eingeführt haben.  Dadurch ist die Bandbreite der unterschiedlichen gesetzlichen Vorgaben zusätzlich erhöht.

Umfang und Qualität sind kostenrelevant

Neben der Frage, nach welchen Normen Barrierefreiheit im jeweiligen Bundesland zu gewährleisten ist, müssen weitere Aspekte der jeweiligen technischen Baubestimmungen geprüft werden – nicht zuletzt aus kostenkalkulatorischer Sicht. Dies betrifft gerade Umfang und Qualität der baurechtlichen Anforderungen an Barrierefreiheit. Quantitative Unterschiede von Barrierefreiheit im Wohnungsbau etwa zeigen sich in voneinander abweichenden Bestimmungen, ab welcher Anzahl von Gebäude-Etagen auch barrierefrei erreichbare Wohnungen in Wohngebäude zu integrieren sind.

Während beispielsweise in Bayern, Bremen oder Sachsen bereits Gebäude mit mehr als zwei Geschossen über barrierefrei erreichbare Wohnungen in einem Geschoss verfügen müssen (BayBO, § 48, Abs.1; BremLBO, § 50, Abs. 1; SächsBO, § 50, Abs. 1), sieht die Bauordnung in Berlin anderes vor: Dort ist festgelegt, dass in Gebäuden mit mehr als vier Wohnungen die Wohnungen eines Geschosses über den üblichen Hauptzugang barrierefrei erreichbar sein müssen(§ 51, Abs.1 BauOBln).

In Mecklenburg-Vorpommern hingegen ist die Vorgabe an die Anzahl der Wohnungen innerhalb eines Gebäudes gebunden, nicht an die Anzahl seiner Geschosse (LBauO M-V, § 50, Abs.1). Innerhalb einer Wohneinheit wiederum ist zu klären, welche Räume und Bereiche barrierefrei angelegt werden müssen oder ob Freisitze, Abstellmöglichkeiten für Rollstühle oder andere Gestaltungsaspekte in die Planung einzubeziehen sind.↓

Formulierungen mit baurechtlicher Tragweite

Neben den quantitativen Anforderungen an Barrierefreiheit ist zu klären, in welcher Qualität die Gestaltungsvorgaben zu realisieren sind. Die Landesbauordnungen sehen dafür unterschiedliche Regelungen vor, weil Norm-Bestandteile in unterschiedlicher Ausprägung umgesetzt werden. Hintergrund ist, dass die DIN 18040-2 zwischen „barrierefrei“ und „uneingeschränkt mit dem Rollstuhl nutzbar“ (R-Anforderungen) unterscheidet.

Die Begriffe verweisen auf Platzbedarf und Bewegungsflächen und damit genaue Maße unter anderem für Durchgangsbreiten oder den Wenderaum für Rollstühle. So liegt der festgelegte Platzbedarf zur „uneingeschränkten Nutzbarkeit mit dem Rollstuhl“ bei 150 x 150 cm. Von „Barrierefreiheit“ hingegen ist bereits bei einem Flächenmaß von 120 x 120 cm auszugehen.

Niedersachsen hat – anders als andere Bundesländer – die R-Anforderung in Teilbereichen in die Bauordnung eingeführt (NBauO, Art. 49). Dies hat Einfluss auf Gestaltungsoptionen und Kostenplanung eines Bauprojekts. Diese und weitere Unterscheidungen bezüglich der Qualität des barrierefrei zu erstellenden Wohnraums wirken sich auf den Grundriss und die Baukosten aus.

Schutzziele und Lösungsalternativen

Die neu formulierte DIN 18040-2 bezieht sich auf Planungen und Ausführungen von Neubauten; jedoch sollten ihre Vorgaben auch im Sanierungsfall und bei Modernisierungen berücksichtigt werden. Die Norm beinhaltet einerseits feste Vorgaben zur Realisierung des barrierefreien Wohnraums. Andererseits lassen die Landesbauordnungen Alternativlösungen zu, sofern diese den Schutzzielbestimmungen der Norm entsprechen.

So können alternative Maßnahmen zur Herstellung von Barrierefreiheit beispielsweise dann zulässig sein, wenn schwierige Geländeverhältnisse oder eine bereits bestehende ungünstige Bebauung die vorgeschriebene Umsetzung nicht ermöglichen. Gleiches gilt für den Fall, dass die erforderlichen Baumaßnahmen einen unverhältnismäßigen Mehraufwand zur Folge hätten. Generell müssen Alternativmaßnahmen von einem Sachverständigen geprüft und behördlich genehmigt werden: Die Einhaltung der Schutzzielvorgaben einerseits und die Möglichkeit alternativer Ausführungen zur Gewährleistung von Barrierefreiheit erfordern umfassende Expertenkenntnis, um im Ergebnis zu einer kosteneffizienten und gesetzeskonformen Planungslösung zu gelangen.

Fördermittel zur Herstellung von Barrierefreiheit

Fördermittel zur Schaffung barrierefreiem Wohnraums sind sowohl über den Bund als auch über einzelne Länderprogramme möglich. Die unterschiedlichen Voraussetzungen für die Förderprogramme sind im Einzelfall zu prüfen. Eine Möglichkeit etwa ist das Kreditprogramm 159 „Altersgerecht umbauen“ der KfW-Bankengruppe, das die Bestandsanpassung bis zu 100 % auf Grundlage flexibel kombinierbarer Bausteine fördert. Dabei entsprechen die hier festgelegten Maßnahmen zur Herstellung von Barrierefreiheit den Vorgaben nach DIN 18040-2. Voraussetzung zur Gewährung eines Kredits für Neubauten – und auch zur Durchführung Barriere reduzierender Maßnahmen im Bestandsbau – ist eine fachgerechte Ausführung, die die technischen Mindestanforderungen der DIN 18040-2 erfüllt. Zudem ist die fachgerechte Ausführung von einem Sachverständigen, wie etwa TÜV SÜD, zu bestätigen.

Weitere Fördermöglichkeiten bestehen auch über Wohn-Riester, die Eigenheimrente, die Pflegekasse, soweit die Voraussetzungen im Einzelfall erfüllt sind. Zudem ist zu beachten, dass die Leistungsträger eine Förderung nach Baubeginn in der Regel ausschließen.

Gebündeltes Expterten-Know-How von TÜV SÜD

Da die baurechtliche Umsetzung der Norm 18040-2 Ländersache ist und dies in unterschiedlicher Ausprägung erfolgt ist, bestehen diverse Regelungen zur Gewährleistung barrierefreien Wohnraums. Dies betrifft sowohl Umfang als auch Qualität von Barrierefreiheit. Um Bauprojekte gesetzeskonform planen und realisieren zu können, und gleichzeitig Mehrkosten aufgrund von Übererfüllung auszuschließen, ist eine genaue Kenntnis der baurechtlichen Regelungen zur Barrierefreiheit der Länder unerlässlich. Vor diesem Hintergrund hat TÜV SÜD Industrie Service eine eigene Expertengruppe „Barrierefreies Bauen“ eingerichtet. Die Fachleute der Bautechnik stehen Planern, Architekten, Gebäudebetreibern und Investoren in allen Fragen zur Planung und Ausführung barrierefreien Wohnraums beratend zur Seite. Die Experten können Alternativen zu Schutzzielen beurteilen und stehen in ständigem Austausch mit den zuständigen Behörden und Normenausschuss Bauwesen „Barrierefreies Bauen“.

Wie und in welchem Maße Barrierefreiheit zu realisieren ist, wird in der Bauordnung des jeweiligen Bundeslandes (LBO) festgelegt.

Fördermittel zur Schaffung barrierefreiem Wohnraums sind sowohl über den Bund als auch über einzelne Länderprogramme möglich.

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