Interview mit Wolfgang Keen, Partner bei Wetzel & von Seht

Die Zukunft von Mauerwerk ist modular

Wetzel & von Seht ist ein Ingenieurbüro für Tragwerksplanung und Ingenieurbau mit 130 Mitarbeitern und Standorten in Hamburg und Berlin. Seit 2021 ist das Unternehmen Mitglied im Deutschen Ausschuss für Mauerwerk. Im Interview erläutert Partner Wolfgang Keen diesen Schritt und welche Zukunft Mauerwerk aus Sicht der Tragwerksplanung hat.

Was hat ihre Partner bei Wetzel & von Seht und Sie dazu bewegt, Mitglied im Deutschen Ausschuss für Mauerwerk (DAfM) zu werden?

Wolfgang Keen: Das gesamte Bauingenieurwesen befindet sich derzeit in Bewegung. Bei allen Bauweisen und Baustoffen sehen und erwarten wir riesengroße Innovationsschritte. Dahinter steht das Wissen, dass Material in Zukunft knapp sein wird. Das wird uns in den kommenden Jahrzehnten sehr bewegen. Deswegen ist die Erforschung von Alternativen sehr wichtig – nicht nur beim Material selbst, sondern auch bei der intelligenten und effizienten ingenieurmäßigen Ausnutzung der Strukturen einzelner Bauteile. Als Ingenieurbüro wollen wir dort mit dabei sein, wo sich etwas bewegt. Wir wollen an der Entwicklung zukünftiger Bauweisen und Prototypen mitwirken.

Der DAfM ist für uns als Thinktank interessant. Mauerwerk ist eine wichtige Bauweise im Wohnungsbau und anspruchsvolle Mauerwerksprojekte in den Bereichen historische Rekonstruktion und Instandsetzung sind Teil unserer täglichen Arbeit. Auch persönliche Bezüge spielen eine Rolle. Den Vorstandsvorsitzenden des DAfM, Prof. Dr. Eric Brehm, kennen wir bereits von Projektkooperationen.

Was macht die Arbeit mit historischem Mauerwerk so anspruchsvoll? Geht es am Ende nicht einfach darum, Stein wieder an Stein zu setzen?

Wolfgang Keen: Historisches Mauerwerk kann große Herausforderungen bereithalten, gerade wenn der Denkmalschutz hineinspielt. Fehlen zum Beispiel einzelne Steine, kann man diese nicht einfach mit Ziegeln aus dem Baumarkt ersetzen. Originalbaustoffe aus der Zeit sind meist auch nicht verfügbar. Also bleibt nur, neue, historisch anmutende Ziegel herzustellen, im aufwändigsten Falle sogar in individueller Maßanfertigung. Mit klassischen Methoden der Ziegelherstellung kommen wir hier nicht weiter, aber vielleicht mit 3D-Druck-Verfahren.

Wird 3D-Druck von Baukeramik der neue Herstellungsstandard?

Wolfgang Keen: Das lässt sich heute noch nicht mit Bestimmtheit sagen. Sicher ist jedoch, dass 3D-Druck ein großer Innovationstreiber ist. Denn wir können damit nicht nur historische Mauersteine rekonstruieren, sondern Mauersteine komplett neu denken.

Wie meinen Sie das? Denken Sie an runde oder dreieckige Ziegel?

Wolfgang Keen: Spezialanfertigungen und sogar amorphe Ziegel, die bestimmten architektonischen Ästhetiken folgen, sind eine Möglichkeit. Ein anderer Entwicklungspfad ist die Bionik, also Strukturen und Funktionsweisen aus der Natur auf technische Lösungen zu übertragen. So weisen bestimmte Pflanzenarten sehr stabile Stängel auf, die extrem dünn sind, also wenig Material beanspruchen. Die Stabilität beruht dort auf der internen Struktur aus Röhren und unterschiedlichen Gewebearten.

Im 3D-Druck können wir Mauersteine mit einem solchen Innenaufbau entwerfen, die bei geringem Materialaufwand hohe mechanische Eigenschaften und Stabilitäten aufweisen. Ein dritter Pfad ist die Forschung an Substitutionsmaterialien für knapp werdende Ressourcen. Hier sind vor allem Materialien interessant, die formbar und stabil sind. Die Untersuchungen richten sich auch auf die Kombinationsfähigkeit von Materialien, Einsatzmöglichkeiten und Bauweisen.

Hat denn Mauerwerk überhaupt eine Zukunft? Lohnt es sich, in diese Richtung zu forschen?

Wolfgang Keen: Ja, definitiv. Mauerwerk verfügt über hervorragende bauphysikalische Eigenschaften: gute Wärmespeicherfähigkeit, Feuchtigkeitsregulierung, Wärmeundurchlässigkeit und guten Lärmschutz. Das erlaubt ein behagliches und angenehmes Innenraumklima, was besonders im Wohnungsbau eine Rolle spielt. Darüber hinaus ist der Einsatz von Mauersteinen ökonomisch und ökologisch sinnvoller als beispielsweise die Stahlbetonbauweise, weil sie günstiger in der Herstellung und vergleichsweise einfach rückbaubar sind.

Ein weiterer großer Vorteil vom Mauerwerksbau ist die Kleinteiligkeit des Materials. Bei der dringend notwendigen Innenverdichtung von Ballungsräumen kann diese Eigenschaft mitunter entscheidend sein. Denn die Anlieferungswege führen häufig durch enge Straßen, Tordurchfahrten oder Hinterhöfe, wo wenig Platz ist für Krantransport oder große Ortbetonmischer.

Könnte nicht eine andere Bauweise, beispielsweise Holz- oder Betonbau, die Rolle von Mauerwerk im Wohnungsbau übernehmen?

Wolfgang Keen: Die verschiedenen Bauweisen und -materialien weisen ungleiche Eigenschaften auf und eignen sich deshalb für unterschiedliche Anwendungsbereiche. Ich würde beispielsweise einen Wohnungsbau nie in Stahlbauweise planen, weil die bauphysikalischen Eigenschaften von Stahl für Wohnräume schlechter geeignet sind. Andererseits würde ich eine Industriehalle mit großen Spannweiten nicht als Mauerwerksbau planen, weil Mauerwerk keine Zugkräfte aufnehmen kann. Andersherum macht das mehr Sinn.

Prinzipiell ließe sich zwar jede Bauweise und jeder Baustoff für jeden Zweck einspannen und Mauerwerk beispielsweise durch Holz substituieren. Allerdings würde das sehr aufwendige und teure Sonderlösungen verlangen. Effizient wäre dieses Vorgehen in keinem Fall. Welcher Funktion welche Bauweise und welches Baumaterial angemessen ist – dies der Planungsaufgabe angemessen zu entscheiden, ist unsere Aufgabe als Ingenieure und Tragwerksplaner.

Wetzel & von Seht befasst sich also mit mehr als nur mit Mauerwerk?

Wolfgang Keen: Natürlich. Wir übernehmen Aufträge im kompletten Bereich des Ingenieursbaus, der Objekt- und Tragwerksplanung im Hoch- und Ingenieurbau, sowohl im Bereich Neubau als auch im Bereich Instandsetzung. Beispielsweise haben wir die Tragwerksplanung für den Axel-Springer-Neubau in Berlin und das Studentenwohnheim Woody in Hamburg übernommen. Wir waren auch in Arbeitsgemeinschaft an der Tragwerksplanung des Humboldt-Forums beteiligt.

Prinzipiell arbeiten wir technologieoffen und mit allen Baustoffen. Deswegen sind wir nicht nur Mitglied beim DAfM. Mein Partner Markus Wetzel war lange Jahre Präsident der Bundesvereinigung der Prüfingenieure für Bautechnik in Deutschland. Wir sind unter anderem Mitglied im deutschen Verband für Schweißtechnik, dem deutschen Stahlbau-Verband, dem Deutschen Beton- und Bautechnikverein und der deutschen Gesellschaft für Geotechnik. Dort sind wir an Forschungsprojekten beteiligt und stellen hierfür Ressourcen zur Verfügung. Zudem sind wir in Ausschüssen tätig, die sich mit der Praxistauglichkeit von Regelwerken im Bauwesen beschäftigen.

Angesichts des Mangels an bezahlbaren Wohnungen ruft die neue Bauministerin Geywitz zur seriell-modularen Bauweise auf. Da gerät Mauerwerk gegenüber anderen Baustoffen doch klar ins Hintertreffen.

Wolfgang Keen: Die Modulbauweise erlaubt gewaltige Effizienz- und Geschwindigkeitssprünge, ist aber nicht per se an einen Baustoff gebunden. Die berühmten DDR-Platten waren aus Betonfertigteilen. Das Woodie ist überwiegend aus Holzmodulen zusammengesetzt, ebenso der jüngst errichtete Luisenblock West, ein neues Bundestagsbürogebäude in Berlin-Mitte.

Die Herstellung modularer Vormauerelemente am Stück ist eine riesige Chance für den Mauerwerksbau. Die Fassade besteht dann aus Fertigteilelementen, die einfach an den Rohbau gehängt werden. Solch eine Bauweise ist leicht installier-, ersetz- und später auch rückbaubar. Noch interessanter wäre eine Sandwichkombination mit tragender Wand und Dämmung dazwischen. Wenn dann noch Haustechnik in dem Bauteil integriert wäre, wie derzeit immer mehr im Bereich der Holzmodule praktiziert wird, wäre das der nächste Schritt für eine effiziente Bauweise im Mauerwerksbau.

Der Mauerstein der Zukunft ist also Teil einer Mauerwerksplatte?

Wolfgang Keen: Ich halte das für sehr wahrscheinlich und auch wünschenswert. Modularisierter Mauerwerksbau vereinigt die hervorragenden Eigenschaften des Mauersteins mit einer effizienten Ausführungsweise. Ein hoher Vorfertigungsgrad beschleunigt die Tätigkeit auf der Baustelle, reduziert die nötigen Kapazitäten und spart so Kosten. Vorfertigung in der Halle reduziert die Abhängigkeit vom Wetter und erhöht die Produktqualität. Schließlich ist Werksfertigung auch für die Mitarbeiter attraktiver als Baustellenmontage.

Was sich bislang nicht absehen lässt, ist der Einfluss von Recycling und Wiederverwendung auf den Mauerwerksbau. Denn mit Recyclingmaterial sind nicht dieselben mechanischen Eigenschaften erreichbar wie mit Neumaterial. Da wird noch viel Forschung notwendig sein. Denkbar ist, dass zukünftige Ingenieuraufgaben einen Grenzzustand der Klimaverträglichkeit auf Bauteil- oder sogar Bauwerksebene beinhalten müssen. Dies würde sowohl die Herstellung als auch den Transport, die Bauausführung und den darauffolgenden Lebenszyklus des Bauwerks beinhalten. Dann wäre auch das Mauerwerk als Teil eines Kreislaufsystems nachzuweisen. Die Nutzung von recyceltem Mauerwerksmaterial würde sich nachhaltig auf die Eigenschaften, vielleicht sogar auf das Erscheinungsbild auswirken. Das wird auch den Mauerwerksbau entscheidend prägen.

Herr Keen, vielen Dank für das Gespräch.

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