Und täglich grüßt der Hotzenplotz
Jedes Haus im neuen Kaufbeurener Iser-Quartier hat einen eigenen Namen bekommen. Pate dafür standen Persönlichkeiten, deren Wurzeln im Isergebirge zu finden sind, beispielsweise der Buchautor Otfried Preußler, der sich u. a. mit dem „Räuber Hotzenplotz“ in die Herzen von Millionen von Kindern geschrieben hat.
Die Hauspaten geben einen ersten Hinweis auf die Vergangenheit von Neugablonz, heute der größte Stadtteil von Kaufbeuren im nordöstlichen Allgäu. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs und der Vertreibung der Sudetendeutschen entstanden vor allem in Bayern sogenannte Vertriebenenstädte. Eine davon ist das heutige Neugablonz. Auf dem Gelände einer Fabrik der Dynamit AG fanden hier Ende der 1940er Jahre etwa 18.000 Vertriebene aus dem Kreis Gablonz in Nordböhmen eine neue Heimat. Heute sind viele Bewohner von Neugablonz Nachfahren der vertriebenen Sudetendeutschen und auch nach mehr als 70 Jahren erinnern Ausstellungsstücke im Museum, böhmische Straßennamen und Spezialitäten in Restaurants und Bäckereien an die Heimat im heutigen Tschechien.
Bedarf an modernem Wohnraum
Vor diesem besonderen historischen Hintergrund überrascht es nicht, dass die neu errichtete Siedlung der Wohnungsbaugenossenschaft Gablonzer Siedlungswerk, die seit 1949 Wohnraum baut und verwaltet, den Namen Iser-Quartier erhielt. Denn die Stadt Gablonz liegt im Isergebirge, eine Gebirgsregion in Böhmen. Auf 15.000 m² entstanden acht Mehrfamilienhäuser. „Die kurz nach dem Krieg entstandenen Schlichtbauten in Zeilenform genügten den energetischen Ansprüchen nicht mehr und waren auch nicht mehr zeitgemäß, sodass wir uns entschieden haben, den Altbestand mit neuen, modernen Häusern zu ersetzen“, erklärt Christian Sobl, geschäftsführender Vorstand des Gablonzer Siedlungswerks und fügt hinzu: „Außerdem gibt es in Neugablonz generell einen großen Bedarf an modernem und auch bezahlbarem Wohnraum.“ Von 2016 bis 2019 wurde das Projekt in zwei Bauabschnitten realisiert.
Mehr Wohnraum durch neuen Haustypus
Es entstanden sieben kompakte Einzelbaukörper mit vier Stockwerken in Form eines Punkthauses mit Flachdach – eine Architekturform mit einem um einen Mittelpunkt zentrierten Grundriss – und ein Langhaus mit ebenfalls vier Stockwerken. Unter den insgesamt 109 Genossenschaftswohnungen befinden sich Zwei-, Drei- und Vierzimmer-Wohnungen mit Loggien sowie Penthousewohnungen mit Dachterrasse. In einem Haus hat sich zusätzlich eine Arztpraxis niedergelassen. Die Wohnungen sind barrierefrei, in einem Gebäude werden sogar rollstuhlgerechte Wohnungen angeboten. Rund um die Häuser ist ein Areal mit viel Gemeinschaftsgrün und Freiraum entstanden, in dem ein Wegenetz alle Gebäude und auch die Nachbarschaft miteinander verbindet.
„Früher standen auf dem Grundstück zusätzlich auch Garagen und Stellplätze und es war wesentlich mehr asphaltierte Fläche vorhanden“, erinnert sich Christian Sobl und erklärt weiter: „Heute bietet eine riesige Tiefgarage 124 Stellplätze.“ Besonders ist auch, dass die Energie für Heizung und Warmwasser zu 80 Prozent über einen Eisspeicher gewonnen wird. Das Thema Eis wird ebenfalls baulich aufgegriffen: Jedes Gebäude steht auf seiner eigenen grünen „Scholle“. Mit der architektonischen Form des Punkthauses sorgte Architekt Marco Sedat von wolf.sedat Architekten PartGmbB in Weikersheim für eine größtmögliche Verdichtung, ließ aber zugleich viel Raum für zusammenhängende Grünflächen. „So haben wir aus 4.820 Quadratmeter 8.855 Quadratmeter Wohnfläche geschaffen und für die Mieter deutlich mehr Wohnraum zur Verfügung gestellt“, fügt Christian Sobl hinzu.
Punkthaus gleicht Höhenunterschiede aus
Eine Besonderheit dieses Projekts war der Höhenunterschied von sieben bis acht Meter auf dem gesamten Gelände. „Wir wollten die Schwierigkeit nicht als solche erscheinen lassen“, so Marco Sedat und erklärt, dass sich auch hier die Form des Punkthauses auszahle, denn jedes Haus habe sein eigenes Konzept und sein eigenes Grundstück, sodass der Höhenverzug gut aufgenommen werden konnte und dieser gar nicht auffalle. „Trotz des topographischen Höhenunterschieds haben wir eine ober- und unterirdische Barrierefreiheit schaffen können“, erklärt der Architekt. Somit spricht die Siedlung alle Altersgruppen an.
Geschickt in die Umgebung eingefügt
Mit der Realisierung dieser Punktbauten mit Flachdach ist inmitten von Zeilenbauten und Reihenhäusern eine andere Art von Städtebau entstanden. Wie konnten sich die kompakten massigen Einzelkörper einfügen ohne hervorzustechen? Es musste ein Bezug zur alten Bebauung gefunden werden. Die Verantwortlichen entschieden sich deshalb für eine Putzfassade, die bereits die Fassade der Vorgängerbauten charakterisierte. Gleichzeitig gestalteten die Handwerker sie auch in der gleichen Technik: Sie trugen fein strukturierten Putz mit der Traufe von oben nach unten in leichten Wellen auf. „Wir haben hier bewusst an die Vergangenheit angeknüpft. Mit einer anderen Fassadenfarbgestaltung wäre das Iser-Quartier ein Fremdkörper in der Umgebung geworden. Generell sehen wir die Siedlung eher als Weiterbau denn als Neuanfang“, erklärt Architekt Sedat. Neben der Fassadengestaltung mit Putz ist auch das sehr durchdachte Farbkonzept ein weiterer Grund für die gute Integration der Siedlung in die Nachbarschaftsbebauung.
Ausgeklügeltes Farbkonzept
Das Farbkonzept stammt von dem Schweizer Künstler Thomas Rutherfoord. Er erklärt: „Wenn ich für einen Ort ein Farbkonzept machen darf, möchte ich auch immer etwas über diesen Ort lernen, das ich vorher nicht wusste. Mich interessiert das Unbekannte. Ich richte mich gerne nach dem Slogan aus der Geschichtsbewegung der 1970er-Jahre ‚Grabe, wo du stehst‘. Daraus kann sich dann indirekt – selten explizit – ein Farbkonzept ableiten. So lernte ich zum Beispiel im Museum in Neugablonz viel über die Geschichte der Sudetendeutschen.“
An den Fassaden der benachbarten Reihenhäuser, der sogenannten „Papageien-Siedlung“, tauchen immer mal wieder Gelb- und Beige- sowie starke Rottöne auf. Die Fassaden der Häuser des Iser-Quartiers sind in Grau-, Gelb-, Ocker- und Weißtönen gehalten, aber „auch diese Farben haben einen leichten Roteinschlag, so z. B. die weißen Faschen um die Fenster oder das rötliche Grau. Dies ist zwar nicht auf den ersten Blick sichtbar, aber trotzdem spürbar, sodass sich die Häuser sehr gut in die Umgebung einpassen“, erklärt Marco Sedat und ergänzt: „Rutherfoord verzichtete bewusst auf eine fremde, kalte Farbpalette wie z. B. Blautöne, denn dadurch hätten sich die neuen Häusertypen zu einem Fremdkörper in der Umgebung entwickelt.“
Während das Farbkonzept der Fassaden auch wieder an die Vergangenheit anknüpft und Gegenwart und Vergangenheit miteinander verwebt und vorhandene Farben weiterentwickelt, nimmt die kühlere Farbgestaltung der Treppenhäuser und der Tiefgarage mit vier Blau- und Türkistönen Bezug zum Eisspeicher, sie stellt das Farbspektrum des Eises dar.
Letzter Schliff mit Qualität
Die massiven Bauten errichtet aus einem Einsteinmauerwerk bekamen nach Auftrag des Grundputzes, der Armierung und dem Oberputz den letzten Schliff an der Fassade mit der Sol-Silikatfarbe KEIM Soldalit auf 1.460 Quadratmeter. In den Tiefgaragen strichen die Verarbeiter 6.600 Quadratmeter Betondecken und -wände mit KEIM Concretal-Lasur. Diese Beschichtung legt sich halbtransparent über die Betonoberfäche und kann so optische Mängel ausgleichen. In den Treppenhäusern kam KEIM Innostar auf 6.205 Quadratmetern zum Einsatz. Die Sol-Silikatfarbe verbindet maximale Deckkraft mit hoher Beständigkeit und eignet sich perfekt für den Treppenhausbereich. Für die Decken und Wände der Wohnungen entschieden sich die Verantwortlichen für KEIM Innotop und ließen mit der Sol-Silikatfarbe 26.850 Quadratmeter streichen. Christian Sobl begründet seine Entscheidung für Keimprodukte: „Wir haben mit Produkten von Keimfarben in den letzten Jahren gute Erfahrungen gemacht. Uns überzeugen Aspekte wie Lebensdauer, Wirtschaftlichkeit, Farbtonstabilität und Biozidverzicht.“
Das Tüpfelchen auf dem I
An der Fassade komplettiert im Eingangsbereich an jedem der acht Häuser in schwarzer Schrift der Name des Paten das Konzept. Um an die Geschichte der Stadt anzuknüpfen sind neben dem Otfried Preußler-Haus auch die übrigen sieben Häuser nach bekannten, aus der Region Reichenberg in Nordböhmen stammenden Persönlichkeiten der älteren und jüngeren Geschichte benannt. So gibt es beispielsweise ein Ferdinand-Porsche-Haus und ein Winnie-Jakob-Haus. Auch Wegweisungen werden mit diesen Namen versehen. „Schon früher war es in Neugablonz üblich, dass einige größere und bekanntere Häuser einen eigenen Hausnamen hatten“, erklärt Marco Sedat. So erhält jedes der Häuser eine eigene Identität und die Bewohner haben die Möglichkeit, sich noch stärker mit dem Wohnhaus zu identifizieren. Verantwortlich für diese Ideen ist das Studio Süd, eine Agentur für Beratung, Designplanung und Visuelle Kommunikation aus Ravensburg, die neben dem Wegeleitsystem auch Ideengeber für den Quartiersnamen war.
Kleine Details mit großer Wirkung
In den Eingangsbereichen und Treppenhäusern der Gebäude sind gezeichnete Porträts der Hauspaten, die entsprechende Biografie und kleine Zeichnungen, die auf Leben und Wirken der Persönlichkeit Bezug nehmen, an die Wand gebracht. So finden sich auf den Feuerschutzklappen des Otfried-Preußler-Hauses neben dem Raben und dem Besen aus der Geschichte der kleinen Hexe auch der Hut des Räuberhotzenplotzes. Tanja Kapahnke vom Studio Süd erläutert: „Diese kleinen Details unterstützen die Bewohner zusätzlich dabei, sich mit den Häusern zu identifizieren, nach dem Motto: ‚Ich wohne im ersten Stock beim Hut‘.“
Gelungenes Gemeinschaftswerk
„Ein gutes Projekt ist immer ein Gemeinschaftswerk von vielen Personen: vom Bauherrn über die Architekten und die Fachplaner bis hin zum ausführenden Handwerker“, betont Architekt Marco Sedat und verweist in diesem Zusammenhang auch auf die gute Zusammenarbeit mit dem Architekturbüro Baulinie Architekten Glaeser + Lehmann in Ravensburg, das für die Ausführung und Umsetzung verantwortlich war. Um diesen gelungenen, gemeinschaftlichen Prozess zu betonen, entschieden sich die Verantwortlichen, an den Glasscheiben im Vorbau vor dem Langhaus, alle beteiligten Personen, die zum Gelingen des Projektes beigetragen haben, namentlich aufzuführen.
Positives Feedback aus allen Richtungen
Das Iser-Quartier bekommt durchweg positive Rückmeldungen, zusätzlich erhielt es den Baupreis der Stadt Kaufbeuren. Die Mieter wohnen bereits seit zwei Jahren in den neuen Wohnungen und Christian Sobl zieht auch aus Sicht des Gablonzer Siedlungswerks ein positives Fazit: „Unsere Bewohner aus einer gut gemischten Altersschicht fühlen sich sehr wohl und sprechen von ‚ihrer‘ Wohnanlage: Es ist eine tolle Gemeinschaft entstanden wie wir sie uns wünschen. Der genossenschaftliche Gedanke, das Miteinander, die Identifikation mit dem Unternehmen und der Wohnanlage ist gelungen.“ Und dazu trägt das bis ins Kleinste durchdachte und gelungene Konzept des Iser-Quartiers bei – von der Architektur, über die Farbigkeit der Häuser bis zum Hut des Räuber Hotzenplotzes.
Die kurz nach dem Krieg entstandenen Schlichtbauten in Zeilenform genügten den energetischen Ansprüchen nicht mehr und waren auch nicht mehr zeitgemäß.
Eine Besonderheit war der Höhenunterschied von sieben bis acht Meter auf dem gesamten Gelände.
Das Iser-Quartier bekommt durchweg positive Rückmeldungen, auch von anderen Wohnungsbaugenossenschaften, zusätzlich erhielt es den Baupreis der Stadt Kaufbeuren.
Bautafel
Bauherr:
Wohnungsbaugenossenschaft Gablonzer Siedlungswerk Kaufbeuren eG, Kaufbeuren
www.gsw-kaufbeuren.de
Architekten:
Baulinie Architekten, Gläser & Lehmann, Architektenpartnerschaft mbb, Ravensburg
www.baulinie-architekten.de
wolf.sedat Architekten PartGmbB, Weikersheim
www.wolfsedat.de
Farbkonzept:
Thomas Rutherfoord, Winterthur
Signaletik:
Studio Süd – Visuelle Kommunikation, Ravensburg
www.studiosued.de
Verarbeiter:
Heinze GmbH Die Malerwerkstatt, Kaufbeuren
www.hs-malerwerkstatt-kaufbeuren.de
Produkte:
KEIM Soldalit
KEIM Innotop
KEIM Innostar
KEIM Concretal-Lasur