„Vorteil sind die sehr guten innerstädtischen Standorte“
Am 27. Februar 2019 haben die TU Darmstadt und das Pestel-Institut die Deutschland-Studie 2019 „Wohnraum-Potenziale in urbanen Lagen – Aufstockung und Umnutzung von Nicht-Wohngebäuden“ vorgestellt. Das BundesBauBlatt hat Univ. Prof. Dr.-Ing. Karsten Ulrich Tichelmann nach den Chancen dieser Art von Wohnraumverdichtung befragt.
Herr Professor Tichelmann, wer ist der Initiator der Studie und wer hat sie finanziert?
Initiator der Studien ist ein Bündnis unterschiedlicher Verbände, die sich mit der Frage beschäftigen, was und wo die Bauaufgaben der Zukunft sind und wie bezahlbarer Wohnraum dort geschaffen werden kann, wo er benötigt wird. Dabei handelt es sich unter anderem um Berufsverbände wie die Bundesarchitektenkammer und Bundesingenieurkammer, Verbände der Wohnungswirtschaft und privater Bauherren, Verbände der Baustoffhersteller sowie des Handels. Also ein breiter Querschnitt der maßgebenden Akteure zur Schaffung von neuem Wohnraum.
Im Fokus der Untersuchung standen Nicht-Wohngebäude wie Büro- und Geschäftshäuser, eingeschossige Discounter sowie Parkhäuser. Welche Potenziale könnten hier laut Studie für den Wohnungsbau genutzt werden?
Nachdem in der Deutschlandstudie 2016 die Verdichtung von Wohngebäuden im Fokus stand, wurden nun die Potenziale von neuem Wohnraum im Kontext von Nichtwohngebäuden untersucht. Dabei standen die Gebäudetypologie Büro-und Verwaltungsgebäude, eingeschossige Einzelhandelsgebäude und Discounter mit ihren Parkplatzflächen und innerstädtische sogenannte City-Parkhäuser im Vordergrund.
Es wurden die Regionen und Städte untersucht, die ungesättigte Wohnungsmärkte aufweisen, also einen erheblichen Bedarf an Wohnraum haben. Aufstockungen wurden für Büro-und Verwaltungsgebäude sowie Parkhäuser in Betracht gezogen. Bei den eingeschossigen Einzelhandelsflächen und Discountern standen die Verdichtung und Aufwertung der Grundstücke im Vordergrund bei Erhalt der Einzelhandelsflächen. Hierfür bedarf es der Weiterentwicklung von Konzepten, wie Wohnungsbau und Einzelhandel miteinander gestalterisch und funktional synergetisch kombiniert werden können.
Weiterhin wurden Potenziale sondiert, bei denen Überhänge und Leerstände von bestehenden Bürogebäuden in Wohnungsbau überführt werden können. Dies ist nicht in allen Städten und Regionen möglich, da viele Städte nur geringe Leerstände und einige sogar einen Bedarf an Büro-und Gewerbeimmobilien ausweisen.
Selbst unter konservativen Annahmen ergibt sich für die genannten Gebäudetypologien in der Summe ein Potenzial von ca. 1,2 Millionen bis 1,5 Millionen neuen Wohnungen in den innerstädtischen Kernlagen.
Welche Vorteile bieten die Aufstockungen?
Ein wirklicher Vorteil sind die sehr guten innerstädtischen Standorte, in denen neues Wohnen entstehen kann. Die Grundstücke sind bereits erschlossen und es braucht kein neues Bauland versiegelt zu werden. Der Grundstückspreis muss nicht auf die Bauentstehungskosten umgelegt werden. Mit der Verdichtung lässt sich gleichzeitig die bestehende räumliche und bauliche Qualität des Bestandes verbessern. Mit der Erhöhung der Dichte werden Quartiere wieder für haushaltsnahe Dienstleistungen interessant, diese können sich dann dezentral wieder entwickeln. Gemischte Quartiere mit hoher funktionaler und gestalterischer Qualität können aus dem Bestand heraus entwickelt werden.
In welchem Bereich sehen Sie die größten Potenziale?
Die Größen der Potenziale sind erstaunlicherweise in Städten, Gemeinden und Kommunen sehr unterschiedlich. Insgesamt stecken die größten Potenziale auf den bestehenden Wohngebäuden der Nachkriegszeit. Aber gerade die qualitätsvolle Verdichtung von innerstädtischen Einzelhandelsketten und Discountern weist ebenfalls ein Potenzial von rund 400.000 Wohneinheiten auf. Die Verdichtungs- und Umwandlungspotenziale von Bürogebäuden für Wohnen sind regional sehr unterschiedlich. Die Flächen auf innerstädtischen Parkhäusern eignen sich allerdings nicht nur für Wohnen, sondern besonders gut auch für soziale Infrastruktur, die nachgezogen werden muss, wenn Quartiere dichter werden. So gibt es hier hervorragende Beispiele für Kitas, Schulen und Sportflächen auf Parkhäusern.
Was können Sie zu den ökologischen und zu den wirtschaftlichen Aspekten sagen?
Der stärkste ökologische Faktor ist, dass für den neuen Wohnraum nur im geringen Umfang Freiflächen neu versiegelt werden müssen. Die Innenentwicklung unserer Städte kann einen wesentlichen Beitrag leisten, das 30-Hektar-Ziel des Klimaschutzplanes zu erreichen. Gleichzeitig werden die Ressourcen der bestehenden Gebäude weiter genutzt. Gegenüber der Außenentwicklung werden zusätzliche Pendlerströme in die Innenstadt vermieden. Durch Verdichtung und Aufstockung lässt sich der vorhandene Gebäudebestand in seiner architektonischen und energetischen Qualität verbessern.
Das bereits vorhandene Grundstück muss nicht neu erworben werden und ist in attraktiven Kernlagen ein essenzieller wirtschaftlicher Vorteil. Keine Baugrube, keine neue Gründung, die vorhandene Infrastruktur des Gebäudebestandes, die vorhandene Erschließung des Gebäudes sowie die vorhandenen Außenanlagen können einbezogen und müssen nicht neu errichtet werden. All dies lässt wirtschaftlichen Spielraum, um die vorhandene Qualität des Bestandes und des Umfeldes zu verbessern.
Durch Aufstockung entstehen in der Regel Premiumflächen, da sie besondere Qualitäten im Hinblick auf Pflichten Ausblick haben. Aber sie erzeugen vor allem mehr Wohnungen pro vorhandene Fläche in innerstädtischen Kernlagen und sind ein Beitrag das Wohnungsangebot zu vergrößern.
Welchen Einfluss könnten die Aufstockungen und Nachverdichtungen auf die Lebensqualität in den Städten haben?
Die baulichen Maßnahmen im bestehenden Kontext des Gebäudebestandes bieten die Chance, vorhandene „Narben“ im Stadtbild und städtebauliche Fehlentwicklungen zu korrigieren. Grundsätzlich sollte die Prämisse gelten, keine Verdichtung ohne damit einhergehende Verbesserung der baulichen und räumlichen Qualität – unter Berücksichtigung der vielen unsichtbaren Beziehungen zwischen Gebäuden, Freiräumen und Nutzern. Dann können Aufstockungen und Nachverdichtungen einen wesentlichen Beitrag zur Steigerung der Lebensqualität an einem Standort leisten. Die Entwicklung hin zu gemischtgenutzten Quartieren ist ein weiterer Beitrag, Orte wieder zu beleben und attraktiver zu gestalten. In einer qualitätsvollen Verdichtung liegt eine große Chance. Die attraktivsten Städte Europas, denen eine hohe Lebensqualität zugeschrieben wird, weisen alle höhere Dichten auf, als wir von unseren Großstädten gewohnt sind: Wien, Genf, Basel, Kopenhagen weisen alle nahezu die doppelten Einwohner je Quadratkilometer im Vergleich zu München auf.
Gibt es auch Vorstellungen, wie man die Ideen der Studie umsetzen könnte?
Die Studie enthält eine Vielzahl von Empfehlungen, wie die Prozesse der gezielten Innenentwicklung gefördert und eingefordert werden können. Diese Ansätze und Empfehlungen richten sich an alle Akteure, die in die Prozesse einer gezielten Innenentwicklung eingebunden sind. Der größte Hebel liegt in der zeitgemäßen Weiterentwicklung des Bauplanungsrechts und des Bauordnungsrechts.