Nachhaltigkeit

Ausgezeichnete Quartiere

Bei der Entwicklung neuer Quartiere fehlen für die Nachhaltigkeit oft transparente Kriterien. Quartierszertifizierungen bieten Orientierungshilfe und ein Instrument der ganzheitlichen Qualitätssicherung.

In vielen deutschen Städten herrscht akuter Wohnungsmangel. Um diese Herausforderung zu meistern, sind mehr als Einzelgebäude gefragt, doch Quartiersentwicklungen sind großmaßstäbliche Projekte mit vielen Beteiligten, die sich in ihren Vorstellungen und Zielen oft unterscheiden. Dass der neue Stadtteil nachhaltig sein soll – darin sind sich in der Regel alle einig. Doch die einzelnen Nachhaltigkeitsaspekte eindeutig zu definieren und in der Realität umzusetzen, stellt sich in vielen Fällen als eine schwierige Aufgabe heraus. Denn die damit verbundenen Themen sind vielfältig und interdisziplinär: Ökobilanz, Lebenszykluskosten, Stadtklima, Artenvielfalt, Verkehrssysteme, Regenwassermanagement, städtebauliche Einbindung sowie der Umgang mit Energie, Wasser und stofflichen Ressourcen – um nur einige zu nennen.

All das und mehr berücksichtigen Quartierszertifikate. Dabei ist es nicht für jedes Projekt unbedingt sinnvoll, nach einem Zertifikat zu streben – aber der Blick durch die „Zertifizierungslupe“ kann jedem Projekt helfen, Stärken und Schwächen zu identifizieren, Schwerpunkte zu setzen, und kann als Inspiration und Ideenquelle dienen. Als Stadtentwicklungs-Werkzeug decken Quartierszertifikate ein breites Spektrum an Funktionen ab und machen sich nach anfänglichen Investitionskosten häufig auch monetär bezahlt.

Nicht nur Gebäude auszeichnen

Vorbild für die Zertifizierung von Stadtquartieren ist die Erfolgsgeschichte der Nachhaltigkeitsbewertung für Gebäude Anfang der 1990er-Jahre durch die internationalen großen Zertifizierungsorganisationen. Hierzu gehören das US-amerikanische Nachhaltigkeitslabel LEED sowie das britische Gütesiegel BREEAM. Seit 2007 ist von der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) auch ein deutsches Label verfügbar. Die Nachfrage ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen – einige große Organisationen ziehen etwa nur noch in zertifizierte Bürogebäude.

Doch das Einzelgebäude allein kann die Bedürfnisse der Stadtbewohner und die daraus resultierenden Anforderungen an technische und soziale Infrastrukturen nicht decken. Es wird erwartet, dass bis 2050 fast 70 % der Weltbevölkerung in Städten leben. Wie wir uns in diesen Städten versorgen, bewegen, beschäftigen und erholen, wird weitreichende Konsequenzen haben – und die Weichen dafür stellen wir jetzt. Inzwischen bieten daher alle genannten Organisationen Zertifikate für Stadtquartiere an – und die DGNB zudem auch für Gewerbequartiere, Industriestandorte und Event Areale.

Mehr als marketingwirksame Feigenblätter

Aber: Braucht jedes Quartier ein Zertifikat? Eine Frage, die sich manche Kommunen und Entwickler angesichts begrenzter Mittel stellen oder auch dann, wenn es in ihren Augen um wenig öffentlichkeitswirksame Projekte geht. Leider gilt die Quartierszertifizierung für viele immer noch als reines Marketingsiegel.

Diesem Anspruch kann die Zertifizierung als Herausstellungsmerkmal für besondere Projekte sicher genügen – ihre wahre Stärke zeigt sich jedoch an anderer Stelle. Zertifizierungssysteme können planungsbegleitende Instrumente der ganzheitlichen Qualitätssicherung sein – Leitfaden und Anstoß für eine klar definierte nachhaltige Entwicklung. Das stimmt auch dann, wenn eine Zertifizierung am Ende nicht durchgeführt wird.

So früh wie möglich einsetzen

Gerade was die Planung von Quartieren betrifft, ist die frühzeitige Einbindung der Nachhaltigkeits- und Zertifizierungskriterien gewinnbringend. Wem spät einfällt, auf eine Zertifizierung zu setzen, der hat vielleicht schon den ein oder anderen Zug verpasst. Die Nachweiserstellung ist dann teilweise mit höheren Kosten und Mehraufwand verbunden, und auch die Dokumentation von Planungsschritten und -treffen ist im Nachgang schwierig. Manche Anforderungen sind nachträglich kaum mehr zu erfüllen.

Denn die Systeme überprüfen nicht nur die gebaute Struktur und verschiedene technische Konzepte zu Energie, Verkehr oder Wasser, sondern untersuchen auch Variantenvergleiche, abgeleitete Maßnahmen und kontinuierliche Optimierungen im Planungsprozess. Nur wenn Projekte noch nicht durchgeplant oder gar umgesetzt sind, können die Gutachten und Untersuchungen, die manche Zertifizierungssysteme fordern, auch in die Planung einfließen. Nach Abschluss der Entwurfsplanung kann beispielsweise auf die Ergebnisse einer stadtklimatischen Untersuchung oder auf das Bürgerfeedback zur Gebäudegestaltung kaum mehr reagiert werden. So werden auch unabhängig vom Zertifizierungsergebnis im Projekt Chancen verschenkt.

Wer sich frühzeitig mit den Zielsetzungen und Anforderungen vertraut macht, vermeidet nicht nur Umplanungsaufwand – sondern kann auch Synergien entdecken, die Projekte besser, wirtschaftlicher und attraktiver machen. So entstehen keine aufgesetzten und teuren Nachtragslösungen, sondern ganzheitliche und aufeinander abgestimmte Konzepte. Im Gewerbequartier Berlin TXL wird zum Beispiel ein intelligentes Wärmenetz für Industrieabwärme und erneuerbare Energien.

Heilbronn macht es vor

Auch Heilbronn stand vor der Aufgabe, eine große Fläche zu entwickeln. 81.800 m² Nettobauland des Bundesgartenschaugeländes 2019 sollen im Anschluss an die Ausstellung zu einem neuen Quartier umgestaltet werden. Dabei setzte die Stadt auf eine besondere Herangehensweise. Als eine der ersten Kommunen in Deutschland ließ Heilbronn den Rahmenplan von der DGNB zertifizieren. Noch kennen die wenigsten Entscheider auf Kommunalebene diese Möglichkeit. Gerade für groß angelegte Projekte birgt die Zertifizierung aber enormes Potenzial.

Das neue Quartier wird den Namen Neckarbogen tragen und schreibt bereits Geschichte, denn hier wird zum ersten Mal bei einer Bundesgartenschau auch eine hochbauliche Komponente integriert. Bis zur Eröffnung im April 2019 werden die ersten Wohn- und Geschäftsgebäude in den Himmel wachsen.  Entstehen soll eine „Stadt der kurzen Wege“. Diese Idee spiegelt sich nicht nur in der radfreundlichen und fußläufigen Anbindung an die Kernstadt wider. Eine zentrale Rolle soll auch die Mischung der Gebäudearten und -nutzungen spielen. Neben 1500 Wohneinheiten soll der neue Neckarbogen auch Büros, Geschäfte, Einkaufs- und Gastronomieflächen sowie Freizeiteinrichtungen beherbergen.

Die Krux mit der Vielfalt: Sie funktioniert nur, wenn die beteiligten Akteure, unter anderem Stadtverwaltung, Bürger oder Investoren, gemeinsam an einem Strang ziehen. Doch meistens haben diese unterschiedlichen Ausgangspunkte und Ziele. Deshalb ist es sinnvoll, Kriterien von einer neutralen dritten Stelle einzubeziehen. Bei Heilbronn fungierte die Zertifizierung als Instrument der Vermittlung zwischen den unterschiedlichen Seiten und bot einen Leitfaden und Anstoß für eine klar definierte nachhaltige Entwicklung. Der Einsatz der Zertifizierungskriterien steigerte auch die Projektqualität: Die ganzheitliche Betrachtung zeigte zusätzliche Möglichkeiten auf, die im Prozess bis dato noch nicht sichtbar waren. Dafür gab es nicht nur das DGNB-Platin, sondern auch viel Lob der Öffentlichkeit.

Als Stadtentwicklungs-Werkzeug decken Quartierszertifikate ein breites Spektrum an Funktionen ab.

Zertifizierungssysteme können planungsbegleitende Instrumente der ganzheitlichen Qualitätssicherung sei.

Für groß angelegte Projekte birgt die Zertifizierung enormes Potenzial.

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