Städte auf Nachhaltigkeitskurs
Mit der zunehmenden Verstädterung hat sich das Quartier in den letzten Jahren endgültig als Projekttypus und eigenständige Assetklasse etabliert. Das hat zu Folge, dass auch die Nachfrage nach Qualitätssiegeln für nachhaltige Quartiersprojekte immer weiter steigt. Der Markt passt sich dieser Entwicklung an, neue Siegel werden eingeführt oder bestehende angepasst. Das Wichtigste im Überblick.
Wir leben im urbanen Jahrhundert – das ist mittlerweile allen bekannt. Mehr als 50 Prozent der Menschheit lebt schon in Städten. Auch in Deutschland machte sich dieser Trend – zumindest vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie – durch steigende Mieten, volle Bürgersteige und lange Wartezeiten beim Bürgeramt bemerkbar. Als Konsequenz hat sich die Nachverdichtung und Sanierung von „Potenzialgrundstücken“ zu gemischten Quartieren mit urbaner Qualität zum eigenen Projekttypus entwickelt.
Da verwundert es kaum, dass auch die Nachfrage nach Qualitätssiegeln für gute und nachhaltige Quartiersprojekte steigt. Mit dem EU-weiten Klassifikationssystem für nachhaltige Investitionen (EU-Taxonomie), das ab 1. Januar 2022 voll zur Anwendung kommt, wird es für Projektentwickler und Anleger dieser Assetklasse noch wichtiger werden, dass ihre Quartiere „nachweislich nachhaltig“ sind. Zwar ist die Quartierszertifizierung in Deutschland seit 2012 bekannt, doch in den letzten Jahren hat sich der Markt entwickelt.
DGNB: Mehr Nutzungsvarianten und genaue Kriterien
Das in Europa führende System der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) wurde 2020 aktualisiert und in den vergangenen zwei Jahren so oft angewendet wie noch nie. Das neue System „DGNB Quartiere 2020“ geht über das klassische urbane Wohnquartier hinaus und umfasst auch Varianten mit gewerblichem Fokus, Industriestandorte und besondere Nutzungen wie Ferienresorts, Event-Areale und sogar „Vertical Cities“ mit Schwerpunkt auf Hochhäusern. Damit bietet es für jeden Stadt- und Siedlungsbaustein Leitlinien und Gütesiegel für nachhaltige Planung an.
Zudem setzt die DGNB seit 2018 auf Kontextualisierung: Bei jeder Kriterienbeschreibung wird hervorgehoben, wie die Inhalte mit den Sustainable Development Goals der UN zusammenhängen. Zusätzlich werden Schwerpunktthemen wie „Circular Economy“ und „Der Mensch im Mittelpunkt“ markiert. Eine Liste an verwandten Reporting-Indikatoren rundet jedes Kriterium ab.
LEED: von Quartieren bis hin zu ganzen Städten
Das weltweit führende Green Building System ist das US-amerikanische LEED (Leadership in Energy and Environmental Design), das vom US Green Building Council herausgegeben wird. Im April 2019 kam die Beta-Version von LEED for Cities and Communities heraus. Diese ist auf die Anwendung in größeren Quartieren bis hin zu ganzen Städten ausgerichtet, eine Mindestprojektgröße gilt jedoch nicht. Bisher haben über 100 Projekte an der Beta-Anwendung teilgenommen, jedoch weniger als 10 außerhalb der USA. Die meisten Zertifikate wurden von den Stadtverwaltungen selbst angestrebt.
Neu ist die Anforderung zur Bereitstellung von Daten aus dem Betrieb – zum Beispiel Energie- und Wasserverbrauch, Modal Split und Abfallaufkommen. Hier knüpft LEED for Cities and Communities an die LEED-Plattform „Arc“ an. Diese wurde im Jahr 2016 als Tool, in dem Projekteigentümer die Planungs- und Betriebsdaten ihrer LEED-Gebäude digital mit anderen vergleichen können, eingeführt. LEED for Cities and Communities setzt nun ebenso auf Benchmarking: Numerische Indikatoren wie Tonnen CO2 pro Kopf und Jahr, Wasserverbrauch, Modal Split und Abfallaufkommen sind hier nicht optional, sondern gehören zum Kern des Systems.
WELL: Newcomer mit Fokus auf Gesundheit und Wohlbefinden
Seit seiner Einführung im Jahr 2014 erfreut sich die WELL-Gebäudezertifizierung des International Well Building Institute rasantem Wachstum, vor allem bei Büroimmobilien. Im Gegensatz zu einem ganzheitlichen Nachhaltigkeitsverständnis steht hier die körperliche und psychische Gesundheit der Menschen im Mittelpunkt – nicht einmal der Energiebedarf wird betrachtet. Auch WELL bietet eine Systemvariante für Quartiere: WELL Communities.
Dass ökologische Aspekte dabei nur in der unmittelbaren Wirkung auf den Menschen berücksichtigt werden, ist im Zeitalter von Klimawandel und Biodiversitätsverlust bedenklich. Trotzdem finden sich inhaltlich viele Ähnlichkeiten mit den anderen Zertifikaten. Das liegt daran, dass Maßnahmen in der Stadt immer multivalent sind: alles ist verknüpft. Mehr Stadtbegrünung ist gut für Körper und Geist des Menschen, trägt aber auch zu Artenvielfalt und Wasserhaushalt bei. Für die Stadtentwicklung scheint der Fokus trotzdem zu einseitig zu sein – seit dem Start in 2019 wurden erst vier Quartiere weltweit nach dem System zertifiziert. Ob WELL Communities durch Corona einen Aufschwung bekommt, bleibt abzuwarten.
Quartierszertifizierung wird künftig noch wichtiger
Die insgesamt steigende Nachfrage nach nachhaltigen Quartierszertifizierungen dürfte mit der EU-Taxonomie in den nächsten Jahren weiter zunehmen. Mit dem EU-weiten Regelwerk für nachhaltige Investitionen, das ab 2022 zur Anwendung kommt, wird es Projektentwicklern und Investoren noch wichtiger werden, ihre Quartiersprojekte „nachweislich nachhaltig“ zu gestalten.
Nach heutigem Stand erlaubt allerdings keines der Systeme die einfache Einordnung von Quartiersprojekten nach der EU-Taxonomie. Dafür ist das Thema Nachhaltigkeit zu facettenreich, das Akteursgefüge der Stadt zu vielfältig und auch die Taxonomie in vielen Punkten noch unkonkret. Als Planungswerkzeug und Kommunikationstool sind die Zertifizierungssysteme dennoch ausgesprochen nützlich, solange ihre Kriterien und Indikatoren noch nicht zum business as usual gehören.
Die Nachfrage nach Qualitätssiegeln für gute und nachhaltige Quartiersprojekte steigt.
Als Planungswerkzeug und Kommunikationstool sind die Zertifizierungssysteme ausgesprochen nützlich.