Urteile
BauNVO § 23
Zur Bestimmung einer abweichenden Bauweise durch die Festsetzung der überbaubaren Grundstücksfläche unter Verwendung von Baulinien oder Baugrenzen.
BVerwG, Beschluss vom 13. November 2017 - BVerwG 4 B 23.17
Der Kläger möchte rechtsgrundsätzlich klären lassen,
ob § 22 Abs. 4 BauNVO auch eine Abweichung hinsichtlich der Anforderungen der offenen Bauweise an die Einheitlichkeit der Baukörper gestattet oder ob der Plangeber bei der Anordnung einer „abweichenden“ Bauweise darauf beschränkt ist, nur Änderungen zum seitlichen Grenzanbau und/oder zur Längenbegrenzung im Sinne des § 22 Abs. 2 BauNVO vorzunehmen.
Diese Frage führt nicht zur Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung, weil sie sich auf der Grundlage der vorhandenen Rechtsprechung und mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Gesetzesinterpretation ohne Weiteres beantworten lässt (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 24. August 1999 - 4 B 72.99 - BVerwGE 109, 268 <270> und vom 12. Januar 2017 - 4 B 43.16 - NVwZ 2017, 1067 Rn. 3).
§ 22 Abs. 1 BauNVO ermächtigt die Gemeinden, im Bebauungsplan die Bauweise als offene oder geschlossene Bauweise festzusetzen. Nach § 22 Abs. 4 Satz 1 BauNVO kann im Bebauungsplan eine von Absatz 1 abweichende Bauweise festgesetzt werden. Es steht der Gemeinde damit frei, von dem Feststellungsmuster des Absatzes 1 abzuweichen und Varianten der offenen oder geschlossenen Bauweise zu schaffen. Der Normgeber verwehrt es ihr nicht, im Rahmen des § 22 Abs. 4 Satz 1 BauNVO auch § 23 BauNVO nutzbar zu machen und die abweichende Bauweise durch die Festsetzung der überbaubaren Grundstücksfläche unter Verwendung von Baulinien oder Baugrenzen zu bestimmen (BVerwG, Beschluss vom 29. Dezember 1995 - 4 NB 40.95 - Buchholz 406.11 § 9 BauGB Nr. 80 S. 33).
BauGB 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3
In einem durch landwirtschaftliche Geruchsimmissionen vorbelasteten Gebiet steht § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BauGB der Errichtung eines Ferkelaufzuchtstalles nicht entgegen, wenn durch das Vorhaben die vorhandene Immissionssituation zumindest nicht verschlechtert wird, sofern die Vorbelastung die Grenze zur Gesundheitsgefahr noch nicht überschritten hat und das - immissionsschutzrechtlich nicht genehmigungsbedürftige - Vorhaben den Anforderungen des § 22 Abs. 1 BImSchG genügt.
BVerwG, Urteil vom 27. Juni 2017 - 4 C 3.16
Gegenstand des Verfahrens ist die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zum Neubau eines Ferkelaufzuchtstalles für 1 920 Ferkel, drei Futtermittelsilos und eines Güllebehälters. Der Beigeladene ist Landwirt und betreibt u.a. Ferkelaufzucht. Seine Hofstelle befindet sich in einer Ortsrandlage von B.-H. Die Klägerin ist Eigentümerin eines Grundstücks in B.-H. Das Grundstück liegt am nördlichen Rand des Ortskerns und grenzt an den Außenbereich. Die Klägerin betreibt dort ein Fotoatelier und hält Pferde. In einem Abstand von ca. 50 m südwestlich davon befindet sich ein landwirtschaftlicher Betrieb; das Baugrundstück liegt in einer Entfernung von ca. 160 m nordöstlich des Grundstücks der Klägerin. Insgesamt sind im Ortsteil H. neun landwirtschaftliche Betriebe ansässig, die zumeist südlich des klägerischen Grundstücks in einer Entfernung von bis zu 600 m liegen. In sechs Betrieben werden Rinder gehalten, in den übrigen überwiegend Schweine.
Bei Außenbereichsvorhaben hat das Gebot der Rücksichtnahme in Bezug auf „schädliche Umwelteinwirkungen“ in § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BauGB eine ausdrückliche Regelung erfahren (BVerwG, Beschluss vom 28. Juli 1999 - 4 B 38.99 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 160 = juris Rn. 6; siehe auch Urteil vom 21. Januar 1983 - 4 C 59.79 - Buchholz 406.11 § 35 BBauG Nr. 196 = juris Rn. 13); im Übrigen ist es, soweit es nicht um (schädliche) Immissionen geht, sondern um sonstige nachteilige Wirkungen eines Außenbereichsvorhabens, ein ungeschriebener öffentlicher Belang im Sinne von § 35 Abs. 3 Satz 1 BauGB (BVerwG, Beschlüsse vom 5. September 2000 - 4 B 56.00 - Buchholz 406.11 § 35 BauGB Nr. 344 und vom 28. Juli 1999 - 4 B 38.99 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 160). Hieraus folgt, dass das Vorhaben des Beigeladenen zuvörderst an § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BauGB zu messen ist. Das hat das Oberverwaltungsgericht verkannt.
BauGB § 3
Zur öffentlichen Auslegung über Angaben über Ort der Auslegung in einem großen Gebäude, Zugang zu den Unterlagen und Mithilfe der Bediensteten.
BVerwG, Beschluss vom 29. Juni 2017 - 4 BN 37.16
Die Fragen, welche Angaben gemäß § 3 Abs. 2 BauGB hinsichtlich des Ortes der Auslegung in der ortsüblichen Bekanntmachung der Auslegung zu finden sein müssen, namentlich dann, wenn die Auslegung in einem größeren, mehrgeschossigen Gebäude stattfindet, in dem Beschäftigte und/oder zufällig anzutreffende Bedienstete nicht in Kenntnis über die Auslegung und deren konkreten Ort sind, insbesondere, ob es in einem großen, mehrgeschossigen Gebäude, bei dem die anzutreffenden Bediensteten im nennenswerten Umfang nicht in Kenntnis über die Einzelheiten der Auslegung, namentlich auch den Ort sind, für eine ordnungsgemäße Auslegungsbekanntmachung genügt, einfach nur das Gebäude ohne weitere Angaben zur Zugänglichkeit des Planentwurfes anzugeben, führen nicht zur Zulassung der Revision. Sie lassen sich, soweit überhaupt einer rechtsgrundsätzlichen Klärung zugänglich, auf der Grundlage bisheriger Rechtsprechung des Senats im Sinne des Oberverwaltungsgerichts beantworten. In dem Urteil vom 29. Januar 2009 - 4 C 16.07 - (BVerwGE 133, 98) ist ausgeführt, dass das in § 3 BauGB geregelte Verfahren der Öffentlichkeitsbeteiligung u.a. den von der Planung Betroffenen die Möglichkeit geben soll, ihre Interessen und Rechte frühzeitig geltend zu machen und in den Entscheidungsprozess einzubringen. Um den Interessierten, an den sich die Bekanntmachung wendet, nicht in Wahrheit von einer Beteiligung abzuhalten oder die Beteiligung mindestens zu erschweren, sondern ihn im Gegenteil zu einer Beteiligung zu ermuntern, ordnet § 3 Abs. 2 Satz 2 BauGB an, dass Ort und Dauer der Auslegung der Planentwürfe ortsüblich bekannt zu machen sind. Die ortsübliche Bekanntmachung hat nicht den darüber hinausgehenden Zweck, den am Planungsprozess Interessierten jedwede Anstrengung zu ersparen, den Planentwurf ausfindig zu machen. Eigenständige Bemühungen, die den Betroffenen nicht überfordern, dürfen ihm zugemutet werden (BVerwG, Beschluss vom 8. September 1992 - 4 NB 17.92 - BRS 54 Nr. 27).
Die Festsetzung eines Sondergebietes „Dauerwohnen und Gästebeherbergung“ kann auf § 11 Abs. 1 BauNVO gestützt werden.
BauNVO § 11 Abs. 1
BVerwG, Urteil vom 18. Oktober 2017 - 4 CN 6.17
Wie von § 11 Abs. 1 BauNVO gefordert, unterscheidet sich das festgesetzte Gebiet wesentlich von den Baugebieten nach den §§ 2 bis 10 BauNVO.
Ein wesentlicher Unterschied zu den Gebieten nach den §§ 2 bis 10 BauNVO besteht, wenn ein Festsetzungsgehalt gewollt ist, der sich keinem der in den §§ 2 ff. BauNVO geregelten Gebietstypen zuordnen und sich deshalb sachgerecht auch nicht mit einer auf sie gestützten Festsetzung erreichen lässt (BVerwG, Urteile vom 29. September 1978 - 4 C 30.76 - BVerwGE 56, 283 <286> und vom 11. Juli 2013 - 4 CN 7.12 - BVerwGE 147, 138 Rn. 12). Die allgemeine Zwecksetzung des Baugebiets ist das entscheidende Kriterium dafür, ob sich das festgesetzte Sondergebiet wesentlich von einem Baugebietstyp im Sinne der §§ 2 bis 10 BauNVO unterscheidet (BVerwG, Beschluss vom 7. Juli 1997 - 4 BN 11.9 - Buchholz 406.12 § 11 BauNVO Nr. 22 S. 4 und Urteil vom 28. Mai 2009 - 4 CN 2.08 - BVerwGE 134, 117 Rn. 10).
Das festgesetzte Sondergebiet unterscheidet sich wesentlich von einem reinen Wohngebiet nach § 3 BauNVO.
Reine Wohngebiete dienen nach § 3 Abs. 1 BauNVO dem Wohnen. Das festgesetzte Sondergebiet dient indes auch der Fremdenbeherbergung. Diese Nutzung ist kein Wohnen im Sinne der Baunutzungsverordnung. Der Begriff des Wohnens im Sinne von § 3 Abs. 1 BauNVO ist durch eine auf Dauer angelegte Häuslichkeit, Eigengestaltung der Haushaltsführung und des häuslichen Wirkungskreises sowie Freiwilligkeit des Aufenthalts gekennzeichnet. Diese Kriterien müssen diejenigen erfüllen, denen die Unterkunft als Heimstätte dient (BVerwG, Beschlüsse vom 25. März 1996 - 4 B 302.95 - Buchholz 406.12 § 3 BauNVO Nr. 12 S. 3 und vom 20. Dezember 2016 - 4 B 49.16 - NVwZ 2017, 723 Rn. 7). Maßgeblich für die Erfüllung des Wohnbegriffs sind das Nutzungskonzept und seine grundsätzliche Verwirklichung (BVerwG, Beschluss vom 25. März 1996 - 4 B 302.95 - a.a.O.). Bei der Fremdenbeherbergung, die hier in Ferienappartements angeboten werden soll, fehlt es an einer Häuslichkeit, die auf Dauer angelegt ist. Denn die Gäste halten sich nach dem Nutzungskonzept und seiner typischen Verwirklichung jeweils allenfalls wenige Wochen in diesen Räumlichkeiten auf (OVG Greifswald, Urteil vom 19. Februar 2014 - 3 L 212/12 - BRS 82 Nr. 77; OVG Lüneburg, Urteile vom 18. September 2014 - 1 KN 123/12 - BRS 82 Nr. 21 und vom 15. Januar 2015 - 1 KN 61/14 - ZfBR 2015, 492; VGH Mannheim, Beschluss vom 26. Januar 2017 - 5 S 1791/16 - ZfBR 2017, 270 <271>; Stock, in: König/Roeser/Stock, BauNVO, 3. Aufl. 2014, § 3 Rn. 24; Fraatz-Rosenfeld/Kahrmann, VR 2014, 37 <37 f.>; von Nicolai, NordÖR 2015, 361 <362>; Pernice-Warnke, NVwZ 2015, 112 <113>; Schink, UPR 2017, 292 <293>; Reidt/von Landwüst, UPR 2015, 12; Vietmeier, in: Bönker/Bischopink, BauNVO, 2014, § 3 Rn. 26; Decker, in: Jäde/Dirnberger, BauGB BauNVO, 8. Aufl. 2017, § 3 BauNVO Rn 4; a.A. Pfeffer, NVwZ 2016, 729 <731>; ders., VBlBW 2015, 503 <504>).
In der Literatur wird erwogen, Wohnungen oder Räume für Feriengäste wie kleine Betriebe des Beherbergungsgewerbes nach § 3 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO zu behandeln, auch wenn es an beherbergungstypischen Nebenleistungen fehlt und die Gäste ihren häuslichen Wirkungskreis selbst gestalten können (Pernice-Warnke, NVwZ 2015, 112 <113>; Fraatz-Rosenfeld/Kahrmann, VR 2014, 37 <38 f.>; Stock, in: König/Roeser/Stock, BauNVO, 3. Aufl. 2014, § 3 Rn. 41, § 4a Rn. 25; ders., in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand Mai 2017, § 4 BauNVO Rn. 110; Fickert/Fieseler, BauNVO, 12. Aufl. 2014, § 3 Rn. 20). Diesen Gedanken greift § 13a Satz 2 BauNVO 2017 auf (vgl. BT-Drs. 18/10942 S. 57).
BVerwG, Beschluss vom 2. November 2017 - 4 B 58.17
Der Kläger hält die Fragen für grundsätzlich klärungsbedürftig, inwieweit das Angrenzen verschiedener Baugebiete als situationsbezogenes Korrektiv beim Gebot gegenseitiger Rücksichtnahme gemäß § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO zu beachten ist und ob in solchen Fällen betreffend die Immissionsschutzwerte ein Zwischenwert zu bilden ist. Die erste Frage rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision, weil das Oberverwaltungsgericht mit dem Kläger davon ausgegangen ist, dass sich der Nachbarschutz für ein außerhalb der Grenzen eines Plangebiets gelegenes Grundstück baugebietsübergreifend nach dem in § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO enthaltenen Gebot der Rücksichtnahme bestimmt, und geklärt ist, dass sich die Anforderungen im Einzelnen („inwieweit“) maßgeblich danach richten, was dem Rücksichtnahme begünstigten einerseits und dem Rücksichtnahme verpflichteten andererseits nach Lage der Dinge zuzumuten ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Februar 1977 - 4 C 22.75 - BVerwGE 52, 122 <126> zum Gebot der Rücksichtnahme als öffentlicher Belang im Sinne des § 35 Abs. 3 Satz 1 BauGB). Auf die zweite Frage lässt sich antworten, dass in den Bereichen, in denen Gebiete von unterschiedlicher Qualität und Schutzwürdigkeit zusammentreffen, die Grundstücksnutzung mit einer spezifischen gegenseitigen Pflicht zur Rücksichtnahme in der Weise belastet ist, dass die störende Nutzung die von ihr ausgehenden Belästigungen in Grenzen hält und die benachbarte Wohnnutzung die Tatsache, dass sie in der Nähe einer Belästigungsquelle angesiedelt ist, „im Sinne der Bildung einer Art Mittelwert“ respektiert (BVerwG, Beschluss vom 5. März 1984 - 4 B 171.83 - Buchholz 406.11 § 34 BBauG Nr. 98 S. 38). Gemeint ist mit einem Mittelwert bei Lärmimmissionen ein Wert, der zwischen den Richtwerten liegt, welche für die benachbarten Gebiete unterschiedlicher Nutzung und unterschiedlicher Schutzwürdigkeit - bei jeweils isolierter Betrachtung - gegeben sind (BVerwG, Beschluss vom 28. September 1993 - 4 B 151.93 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 119 S. 106). Der Mittelwert ist der Sache nach aber nicht das arithmetische Mittel zweier Richtwerte und darf nicht mit einer bloßen rechnerischen Interpolation verwechselt werden; vielmehr handelt es sich um einen „Zwischenwert“ für die Bestimmung der Zumutbarkeit. Hierbei sind unverändert die Ortsüblichkeit und - wie das Berufungsgericht zutreffend erkannt hat (UA S. 13) - die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. Die Vorstellung des Klägers, es sei ein rechnerischer Mittelwert zu bilden, befreit davon nicht (BVerwG, Beschluss vom 28. September 1993 a.a.O.). Mehr ist verallgemeinernd nicht zu sagen.