Nötige Materialentsorgung trotz Recycling-Trend
Gerade die Modernisierung von Wohngebäuden aus den Nachkriegsjahren erweist sich oft als schwierig, weshalb Ersatzneubauten notwendig sein können. Was geschieht dann mit den Abbruchmaterialien? Lassen sie sich wiederverwenden oder müssen sie entsorgt werden? Eine komplizierte Gemengelage, wie die Praxis zeigt.
Obwohl Wohnungsmangel besteht, kreist vielerorts die Abrissbirne. Zwar wurden deutschlandweit in 2021 lediglich 1.035 Wohngebäude mit mehr als drei Einheiten zurückgebaut - 686 im früheren Bundesgebiet und 349 in den neuen Ländern einschließlich Berlin - und damit rund 1.000 Objekte weniger als vor 10 Jahren[1]. Angesichts des geringen Angebotes an Mietwohnungen im niedrigen Preissegment, insbesondere in Ballungszentren, erscheint der Öffentlichkeit allerdings jeder Abriss unangebracht. Schon wieder Spekulanten wird vermutet.
Doch spekulative Absichten müssen nicht der Grund für einen Rückbau sein. In manchen Fällen führt schlichtweg kein Weg an einem Abriss und Ersatzneubau vorbei, um den heutigen und zukünftigen Ansprüchen an das Wohnen gerecht zu werden. Die Gretchenfrage bei der Sache ist, was mit den Abbruchmaterialien geschieht? Kommen sie auf die Deponie, in die Verbrennung oder eignen sie sich zur Wiederverwendung? Die Antwort ist mitentscheidend für eine tatsächliche Ressourcenwende in der Bau- und Immobilienwirtschaft, bei der Materialien in geschlossenen Materialkreisläufe geführt und qualitativ gleichwertig erneut eingesetzt werden.
Abriss sollte kein Tabu sein
Besonders die rund 5,4 Mio. Wohngebäude, die in den Nachkriegsjahren zwischen 1949 und 1959 entstanden sind und oft aus dem gezimmert wurden, was die Schuttberge hergaben, sind nur mit viel Aufwand fit für eine CO2-freie Zukunft zu machen, wenn überhaupt. Einer Auswertung des Immobilieninstituts F+B zufolge liegt der Anteil älterer Baualtersklassen (vor 1980 erbaut) in den Energieeffizienzklassen A+ und A, die maximal bis zu 49,99 Kilowattstunden pro Quadratmeter an Endenergie verbrauchen, im unteren einstelligen Prozentbereich[2].
Welche Klimmzüge erforderlich sind, um Altbauten auf ein modernes Level zu heben, stellen traditionelle Wohnungsunternehmen derzeit fest. Schnell kann die Grenze des technisch Machbaren und finanziell Möglichen erreicht und ein Rück- und Ersatzneubau an gleicher Stelle die bessere Alternative sein. Die Forschenden plädieren deshalb für eine unvoreingenommene Diskussion über (geförderten) Ersatzneubau, bei dem neben den energetischen Zielen auch moderne Komfortaspekte in deutlich größerem Umfang realisiert werden können als in den Bestandsbauten der 1950iger Jahre.
Konstruktion und Materialqualität sind ungeeignet
Die Baugenossenschaft Langen eG machte die Probe aufs Exempel. Neun in 1952 und 1957 erbaute Mehrfamilienhäuser mit 101 Wohneinheiten standen 2019 zur Modernisierung an. Sie sollten zum einen saniert werden und zum anderen den Mieter:innen mehr zeitgemäßen Komfort bieten. „Eine Analyse ergab jedoch, dass umfassende Modernisierungsmaßnahmen aufgrund erheblicher Mängel nicht finanzierbar gewesen wären“, so Vorstandsvorsitzender Wolf-Bodo Friers. Daraufhin entschied er sich mit dem Darmstädter Architekturbüro Dörfer Grohnmeier, das rund 10.000 Quadratmeter große Gelände stadträumlich und architektonisch neu zu bebauen.
Während die Vorgängerbauten alleine dem Wohnen dienten und die baulichen Standards kaum noch den Ansprüchen an heutiges Wohnen genügten, orientieren sich die 146 neuen 1- bis 4-Zimmer-Wohnungen der „Anna-Sophien-Höfe“ an beispielgebenden sozialen, nachhaltigen und zukunftsorientierten Maßstäben und werden durch eine gemeinschaftsbildende Infrastruktur ergänzt, wozu unter anderem ein Cafe, Büroräume, eine Mobilitätszentrale und drei Gästewohnungen gehören. Die ausgebauten Gebäudeelemente und mineralischen Abfälle zu recyceln und erneut zu verwenden, kam in Anbetracht der unzureichenden Materialqualitäten und der nicht vorhandenen Trennbarkeit nicht in Frage. Sie wurden professionell entsorgt, also entweder verbrannt oder deponiert oder kommen im Straßenbau zum Einsatz, werden also minderwertig wiederverwendet.
Grundsätzlich ist Friers offen für Recycling. Allerdings sieht er ein generelles Problem: „Ich denke, dass Potenzial von Recycling hängt entscheidend von der Baualtersklasse ab“, und vermutet, „dass insbesondere Gebäude aus den 1950iger Jahren aufgrund mangelhafter Baustoffe und der Asbestbelastung wirtschaftlich nicht unmittelbar verwendbar sind.“
Die Betonmischung macht den Unterschied
Anders sieht die Situation in München aus, wo auf dem 48 Hektar großen Areal der ehemaligen Bayernkaserne bis 2030 das Quartier „Neufreimann“ entsteht. Die Anlage wurde in den 1930iger Jahren als Stützpunkt für die Luftwaffe errichtet. Jetzt sollen hier etwa 5.500 Wohnungen für bis zu 15.000 Menschen realisiert werden. Geplant sind zudem 14 Kitas, mehrere Schulen, Sportanlagen sowie Treffpunkte für Jung und Alt. Auch einen autofreien „Grünboulevard“ und Parkanlagen wird es geben, wofür 1.000 alte Bäume stehen bleiben und 3.000 neue gepflanzt werden.
Der Masterplan stammt von den Architekturbüros Max Dudler und Hilmer/Sattler sowie einigen Freiflächenplanern. Der Clou: Von den gut 1,2 Mio. Tonnen Bauschutt, die durch den Abriss der Kasernenbauten in Form von Beton-, Ziegel- und Mörtelresten anfallen, lassen sich cirka 50 Prozent als Recycling-Beton für die Neubauten einsetzen. Möglich macht das die 2019 durchgeführte Forschungsarbeit des Betonlabors der Hochschule München, die die Recyclingfähigkeit der mineralischen Abfälle untersuchte. Der springende Punkt war die richtige Betonrezeptur zu finden, wofür Eigenschaften wie Korngröße, Dichte und die Wasseraufnahmefähigkeit der Schuttproben eine Rolle spielten. An gegossenen Proben erfolgte die finale Belastungsprüfung. Mit dem Ergebnis: Es funktioniert.
Graue Energie spart CO2
Die Hälfte der 5.500 Wohnungen in „Neufreimann“ entstehen im geförderten Segment, gebaut von den städtischen Wohnbaugesellschaften, die die Grundstücke in Erbpacht erhalten. Darunter ist auch die GWG München, die in vier Projekten 1.000 Mietwohnungen mit Recyclingbeton errichtet. Ende 2021 begann der Bau von zunächst 190 Wohneinheiten. „Es ist ein weiteres Modellprojekt, mit dem wir uns gemeinsam mit der Stadt München auf den Weg in eine klimaneutrale Zukunft machen“, so GWG-Geschäftsführer Christian Amlong in einem Bericht des Lokalsenders München TV.
Ein rechtwinkliges Gebäude mit großzügigen Balkonen wird entstehen, das sich in den städtebaulichen Kontext des urbanen Gebiets einfügt. Ein markantes Detail ist später der neunstöckige Turm an der Nordwest-Ecke des Wohnhauses, das gegenüber dem zukünftigen Park liegen wird. „Aufgrund der Rohstoffknappheit, die auf uns zukommt und bereits jetzt spürbar ist, ist es wichtig, an die Materialität zu denken“, fügt GWG-Geschäftsführerin Gerda Peter hinzu. „Zudem ist es ein Beitrag CO2 einzusparen, weil keine neuen Baustoffe produziert werden müssen.“
Praktische Erfahrung sammeln
Praktische Erfahrung mit Recyclingbeton macht auch der börsennotierte Wohnentwickler Instone Real Estate seit Herbst 2022 in einem Teilabschnitts des im Bau befindlichen Berliner Quartiers „Friedenauer Höhe“, das in einem Joint Venture mit der OFB Projektentwicklung realisiert wird. Unter Einhaltung einschlägiger Normen kommt das aus Bauschutt bestehende Gemisch erstmals für die Deckenkonstruktion zur Anwendung, das nach dem klimaverträglichen, ressourcenschonenden CORE-Verfahren des Schweizer Start-ups Neustark produziert wird. Die neuartige Betonrezeptur reduziert den Zementanteil, wodurch die CO2-Emissionen um 20 Prozent geringer sind gegenüber konventionellem Beton. Einer Sprecherin von Instone Real Estate zufolge, werde man sich nach Abschluss des Pilotprojektes weiter damit beschäftigen und prüfen, wo der zukünftige Einsatz sinnvoll ist und die technischen oder genehmigungsrechtlichen Voraussetzungen gegeben seien.
Giftige Wärmedämmplatten werden grün
Mit der EU-Taxonomieverordnung, die Nachhaltigkeitsanforderungen an wirtschaftliche Aktivitäten und Investments definiert, dürfte es mit dem Downcycling vorbei sein. Denn Artikel 13 sieht unter anderem die hochwertige Aufbereitung und Wiederverwendung von Materialien vor und verlangt die Verringerung und Vermeidung von Abfälle beim Bau und Abriss von Gebäuden[3]. Zudem gibt es Grund zu der Annahme, dass die derzeitige Flut von Bauschutt durch neue Recyclingverfahren in Zukunft abebbt. Beispielsweise stehen bei der Entsorgung und Verwertung von Wärmedämmplatten die Zeichen auf grün. In den Niederlanden ging im Juni 2021 eine erste Demonstrationsanlage in Betrieb, die es erstmalig ermöglicht, das klima- und umweltschädliche Flammschutzmittel HBCD und andere Zusatzstoffe auszuschleusen und das Polysterol sortenrein zurückzugewinnen. Bisher darf das Material nach der EU-Chemikalienverordnung REACH nur thermisch verwertet werden[4]. Durch die Verbrennung werden nicht nur wertvolle Ressourcen zerstört, sondern auch große Mengen CO2 freigesetzt. Zur Zeit baut das Konsortium „Polystyreneloop“, dem der EPS-Erzeuger BASF und der Dämmsystem-Hersteller Rygol angehören, ein geschlossenes Kreislaufsystem für die Wiederverwendung vonPolystyrol-Dämmstoffabfällen auf. Pro Jahr ist das Recycling von 3.000 Tonnen HBCD-haltigem Material geplant[5].. Dem steht der jährliche Rückbau von 200.000 Tonnen in Europa gegenüber[6]. Das Reservoir ist also beträchtlich.
Mehr Vernetzung ist nötig
Das Beispiel technologischen Fortschritts zeigt, dass heute problematische Baumaterialien künftig wieder verwendbar sein können. Um so wichtiger ist die Bauforschung auf diesem Gebiet und die Überführung der Ergebnisse in die Praxis. Beides möchte Bundesbauministerin Klara Geywitz mit dem „Sofortprogramm für den Sektor Gebäude“[7] stärken, indem beispielsweise die Vernetzung der Akteure des Bauwesens, der Baustoffindustrie, der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft sowie der Abfallwirtschaft zwecks Innovationstransfer besser gelingt. Bis auf Weiteres dürfte am Abriss und der Materialentsorgung scheinbar kein Weg vorbeiführen – zumindest in einigen Fällen.
Literatur
[2] www.f-und-b.de/beitrag/fb-wohn-index-deutschland-ii-2021.html (Seite 6, Grafik unten)
[3] https://lexparency.de/eu/32020R0852/ART_13/
[4] www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/421/publikationen/faq_hbcd_de_17.pdf
[5] www.presseportal.de/pm/112060/5255314